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Kultur: Langes, leidvolles Leben

Die Galerie Poll zeigt neue Arbeiten von Maxim KantorVON RONALD BERGDas "Paar im Niemandsland" von 1998, janusköpfig zerrissen, im Dunkel sich zugewandt, doch äußerlich grell entzweit: Wer Maxim Kantor nicht kennt, muß Bilder wie diese als Werke eines alten Mannes begreifen.Kantor, 1957 in Moskau geboren, der Stadt in der immer noch lebt und arbeitet, nimmt das als Kompliment.

Die Galerie Poll zeigt neue Arbeiten von Maxim KantorVON RONALD BERGDas "Paar im Niemandsland" von 1998, janusköpfig zerrissen, im Dunkel sich zugewandt, doch äußerlich grell entzweit: Wer Maxim Kantor nicht kennt, muß Bilder wie diese als Werke eines alten Mannes begreifen.Kantor, 1957 in Moskau geboren, der Stadt in der immer noch lebt und arbeitet, nimmt das als Kompliment.So ist es auch gemeint.Aus Kantors Gemälden und Radierungen sprechen Wissen und Erfahrung. Tatsächlich sind Kantors Bilder zeitlos.Nicht, daß man diese Arbeiten aus den letzten beiden Jahren nicht datieren könnte, denn sie sind auch Ergebnis einer biographischen und künstlerischen Entwicklung.Zeigte Kantor noch vor Jahren zerquälte, hochexpressive Visionen der Bestie Mensch mit bunt zerklüfteten Gesichtern oder "Die einsame Masse", wie zwischen Gulag und Jüngstem Gericht, zeigte er den Sozialismus als alltägliche Höllenfahrt, in der das gemeine Volk von äußeren Mächten dominiert und deformiert wurde, so haben sich Kantors neuere Arbeiten beruhigt.Nicht mehr die äußeren Umstände zwingen die Menschen in eine Form, sondern sie leben plötzlich von innen heraus, und man erkennt: Die Verhältnisse und das Kollektiv sind nicht alles.Zieht man sie ab, kommt der Mensch mehr tragisch als strahlend wieder hervor. Stilistisch kann man Kantors jüngste Phase als postexpressionistisch beschreiben, aber darum geht es nicht in erster Linie, ebensowenig wie um das Sujet, die Porträts und Stilleben, die nun Kantors bevorzugtes Thema bilden.Nein, die Hauptsache ist das "feeling", das sich in den Bilder mitteilt.Die Bilder von der "Familie", von Vater und Mutter, vom Blumentopf auf der Fensterbank, der über den Stuhl geworfenen Jacke oder dem Haus aus Backstein handeln vom Nächstliegenden.Das meint nicht nur eine räumliche Nähe.Hier, im Allervertrautesten, gelingt es Kantor, etwas Wesentliches zu erfassen und darzustellen.Was tief unter die Oberfläche liegt, wird plötzlich sichtbar. Es scheint, als sei jede dieser haarig-büschligen Linien in den mit bis zu 170 Zentimetern ungewöhnlich großen Radierungen Ausdruck eines langen leidvollen Lebens.Wie Kantor das macht, ob unter den Bedingungen in Rußland die Seele schneller reift, ob sie dabei tiefer wird, bleibt ein Rätsel.Der russische Künstler ist nicht deshalb Virtuose, weil es so gut malen oder zeichnen kann, er kann es, weil er ein Künstler ist, ein Sehender, wo andere nichts erblicken, ein Fühlender, wo andere nichts bemerken. Was hat Kantor im emphatischen Sinne erkannt? Etwas so allgemein Menschliches, das es meistens verdrängt wird: die Sterblichkeit.Kantors "Mittagsschläfer" sieht aus wie ein Körper auf seinem Leichenbett.Oder "Lena" mit zusammengefalteten Händen, buchstäblich gezeichnet durch schrundige Linien und verschrobene Züge, als wäre die Schwerkraft sichtbar, der sich diese Frau mit ungebeugter Würde entgegenstemmt.Kantor genügen dazu wenige Striche.Sein "Verwildertes Feld" zeigt mit seinen spärlichen Stricheleien im Grunde ein Prospekt des Kantorschen Linienrepertoires. Gemälde und Radierung, die wie beim "Baum" das gleiche Motiv verwenden, wobei das Gemälde sozusagen mit einer Radierung abgeschlossen wird, stehen bei Kantor in dialektischem Verhältnis, fast konnte man sagen: in einer komplimentären Beziehung.Das Gemälde lebt aus der Farbe, wächst in die Zeit, die es zur Entstehung benötigt, die Radierung abstrahiert das Gemälde dann zur Struktur.Doch die Aussage, die sich der Hand verdankt, ist die gleiche: Selig sind die Armen, die Opfer.Ihnen, den "Bettlern" leuchtet selbst die Abfalltonne, in der sie fingern bläulich und schimmernd grün, rein in der Farbe wie der grüne Mantel, den sie tragen, das schäbige Stück.Die Farbe in den neuen Gemälden hat sich im Vergleich zu Kantors früheren Arbeiten geklärt, durch die schmutzige gesellschaftliche Wirklichkeit, die früher oft Kantors Motiv war, leuchtet nicht mehr das symbolische Rot und Schwarz, sondern die Lokalfarbe in metaphysischer Reinheit (Gemälde 14 000 DM bis 120 000 DM, Radierungen 3000 DM bis 4000 DM). Galerie Eva Poll, Lützowplatz 7, bis 27.Mai; Montag 10-13 Uhr, Dienstag bis Freitag 11-18 Uhr, Sonnabend 11-15 Uhr; Katalog 20 DM.

RONALD BERG

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