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Einen Blues für die Angst. Der Berliner Komponist Helmut Oehring. Foto: J. Oellermann

© Jens Oellermann

Kultur: Laut & still

Komponist Helmut Oehring schreibt sein Leben.

An welcher Stelle auch immer man dieses Buch aufschlägt, es macht, dass einem Hören und Sehen vergeht. Weil es so ungeschönt die Wahrheit sagt, und weil es sich zu dieser Wahrheit erst durchringen, durchfressen, durchbohren muss. Sprachlich drastisch, poetisch, sperrig und roh, Haken schlagend, Widerhaken setzend, um nur ja kein Lesewohlfühlaroma aufkommen zu lassen, nicht den kleinsten Anflug von anekdotischer Verbindlichkeit oder Larmoyanz. Mit 50 Jahren hat der Komponist Helmut Oehring seine Autobiografie geschrieben, und sie liest sich, wie sich seine Musik anhört: herb, kompromisslos, theatralisch, pathetisch, höchst widersprüchlich. Ein Abdruck der Welt, in der er lebt, in der wir leben? Kommunikation als Aufschrei.

Oehring, 1961 in Ost-Berlin geboren, lernt erst mit vier Jahren sprechen. Er ist das Kind gehörloser Eltern und verständigt sich mit Gebärden, bei einer Tagesmutter lernt er, dass Menschen sich anders verständigen – und eine Welt bricht zusammen. Durch die Trias Vater-Mutter-Kind geht fortan ein Riss, die Wirklichkeit zerfällt in ein stummes Innen und ein überlautes Außen, der kleine Helmut agiert darin als Vermittler und Übersetzer, verhandelt mit Ämtern, bügelt alltägliche Peinlichkeiten aus, schämt sich, wird gemobbt und systematisch verprügelt, setzt sich spät zur Wehr. Ein Trauma. Zu sagen, die Musik als dritte Sprache habe ihn aus diesem Lebensdilemma erlöst, wäre zu kitschig, zu versöhnlich. Aber nicht ganz falsch.

„Es ist Schwerstarbeit für einen Tauben“, schreibt Oehring, „mit jemandem zu sprechen, der hören kann. (...) Ständig: Habe ich das richtig verstanden? Entschuldigung, was haben Sie gerade gesagt? Alles reinste Schinderei und Pein. Stress. Oh Scheiße, wär‘ ich endlich allein, um wieder zu Atem zu kommen.“ Über die westliche Pop- und Schlagermusik der siebziger Jahre kommt der Heranwachsende zur Musik, zum Denken, Fühlen und Sagen in Klängen. Er kauft sich ein kleines „ABC der Musik“, bringt sich Notenlesen und -schreiben bei, lernt Gitarre spielen. Vorher, mit neun Jahren, ertrinkt er fast beim Baden in einem See. Sein Vater sieht ihn nicht, kein Schreien hilft. Im letzten Moment merkt er, was in seinem Rücken geschieht. Die Musik, sagt Oehring, habe ihn aus der Welt seiner Eltern weiter herauskatapultiert als jedes Sprechen. So weit, bis er wieder auf sie zugehen konnte. Seit Jahren arbeitet er in seinen Stücken mit Sängern und Gebärdensolisten. „Begegnungen kontrollierter Art“ nennt Oehring das. Gegenseitige Verwirrung stiftet er damit immer noch und immer wieder.

Das erste, was er komponiert, ist ein Streichquartett. Dieses legt er dem Komponisten André Asriel vor:

„Er: Wie kommen Sie dazu, ein Streichquartett zu schreiben?

Ich: Wzzdshbkottssetfvjkkjgcnjfdsetzjibbfdv. Hmm na ja so und so. Ooochhh ähhhmm. Buzgfoiugewfbiuhuhberfiuheruhhiuhfrzreiowurrhoiefr.

Er: Ja, aha. Wo und bei wem haben Sie studiert?

Ich: VEB Autobahnkombinat Dresden. Tiefbau, Drainage und so.

Er: Ah. Ja.

Ich: Schwitze. Meine Stirn und meine Achseln sind leider ganz nass. Wie früher in der Schule. Aber ich weine nicht. Mein Professor ist sehr nett zu mir.“

Oehring nimmt Stunden bei Georg Katzer und Friedrich Goldmann, robbt sich von Job zu Job, eckt politisch an, driftet nach der Wende in die Drogenszene ab, kommt auf den Hund. Und hat mit seiner Musik plötzlich Erfolg. Einer, der buchstäblich von unten kommt und aus dem Osten und mit dieser Geschichte, diesen Geschichten, das klingt in den Ohren vieler westlicher Festivalmacher und Veranstalter der neunziger Jahre wie ein Heilsversprechen, dass so etwas Krudes, Versponnenes und Verkopftes wie neue Musik doch noch etwas mit dem Leben zu tun haben könnte. Sich der eigenen Sache annehmen, das kann man aus diesem Buch und aus dieser Musik lernen. 2013 wird an der Berliner Staatsoper Helmut Oehrings neue Oper „Mittsommernacht“ uraufgeführt. Christine Lemke-Matwey

Helmut Oehring: Mit anderen Augen. Vom Kind gehörloser Eltern zum Komponisten. btb Verlag, 256 Seiten, 19,99 €.

Christine Lemke-Matwe

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