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Die Philosophielehrerin und der Doktorand, der einmal ihr bester Schüler war. Nathalie (Isabelle Huppert) besucht Fabien (Roman Kolinka).

© Berlinale

„L’avenir“ auf der Berlinale: Wer verliert, gewinnt

Erster Glanzpunkt im Wettbewerb der Berlinale:  „L’avenir“ ist eine eindrucksvolle Studie über die Einsamkeit und das Älterwerden.

Wer dem bereits beeindruckend umfangreichen und verblüffend kohärenten Werk der 35 Jahre jungen Autorenfilmerin Mia Hansen-Løve beikommen will, ist beim Nachdenken über das Verlieren gut aufgehoben. In ihrem Debüt „Tout est pardonné“ (2007) verliert eine junge Familie für eine lange Zeit den Vater, der sich einer anderen Frau zuwendet. Zwei Jahre später inspirierte sie der Freitod des französischen Produzenten Humbert Balsan, der auch ihr Mentor war, zu „Der Vater meiner Kinder“. Und 2011 variierte sie ihre Obsession für Abwesenheitsszenarien in „Eine Jugendliebe“: Eine Frau verliert Jahre ihrer Jugend an einen Mann, der sich ihr immer wieder fundamental entzieht.

So radikal wie keine ihrer früheren Arbeiten

Wie treffend passt dazu ihre schöne, letztes Jahr im Tagesspiegel-Gespräch formulierte Interpretation des Titels ihres vierten Films, in dem ein DJ fast 20 Jahre vertändelt, bis ihm plötzlich kaum eine Perspektive bleibt? „Natürlich ist ,Eden’ auch das Paradies, und das bedeutet grundsätzlich: das verlorene Paradies.“ Und wen wundert es da noch, dass nun, in dem hübsch bibliophil eingebundenen „L’avenir“, auf einem der ersten ins Bild gehaltenen Buchumschläge „Le perdant radical“ zu lesen steht, die Übersetzung von Hans Magnus Enzensbergers „Versuch über den radikalen Verlierer“?

Tatsächlich erzählt dieser fünfte Film der Französin, so radikal wie keine ihrer früheren Arbeiten, geradezu von einer Serie von Verlusten, denen eine Philosophielehrerin an einem Pariser Gymnasium in ihrer schon spürbar überschrittenen Lebensmitte ausgesetzt ist. Ja, wenn das Bild erlaubt ist: ausgerechnet von einer Leere, die – offenkundig und schmerzhaft und zugleich klaglos ertragen – hier ein Leben immer mehr füllt. Wie die Deckfarbe Weiß, die sich, von der Mitte eines Gemäldes her, langsam zum Rahmen hin vorarbeitet und dabei alles doch biografisch verbürgte Bunte zu verschlingen droht.

"Ich habe ein erfülltes intellektuelles Leben"

Nathalie (Isabelle Huppert) lebt mit ihrem Mann Heinz (André Marcon), Lehrer an derselben Schule, und zwei nahezu erwachsenen Kindern gemeinsam unter einem altlinksintellektuellen, mittlerweile komfortabel bourgeois gegen übliche Nöte und Kälte gedämmten Dach. „Ich habe ein erfülltes intellektuelles Leben“, sagt sie einmal, „und das macht mich glücklich“ – und an diesem Glück will sie eindeutig festhalten.

Auch wenn ihr scheinbar längst in die lebensherbstliche Gemütlichkeit hinübergeglittener Mann ihr eines Tages eröffnet, dass er eine andere hat und aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen will. Auch wenn ihre kapriziöse Mutter, die sie mit erpresserischen Anrufen foltert, bald nach dem Umzug in ein Altersheim stirbt. Auch wenn die Kinder längst ihrer Wege gehen. Und ihr Lieblingsschüler Fabien (Roman Kolinka), inzwischen Philosophie-Doktorand, seine Zukunft in Paris weggibt für das alternative Wohngemeinschaftsleben in einem idyllisch gelegenen Bauernhaus am Alpenrand. Durchaus denkbar, dass er dort vom Schreiben umsattelt auf die Eselszucht, die Wege des jungen Herrn sind unergründlich.

"Ich will junge Leute dazu bringen, selbst zu denken"

Oder ist es vielmehr umgekehrt so, dass Nathalie durch all diese Verluste gewinnt – jene „radikale Freiheit“, die sie neu zu fühlen beginnt? Vieles spricht dafür, dass Mia Hansen-Løve, Tochter einer Philosophielehrerin und als Regisseurin zumindest im Ansatz autobiografisch arbeitend, genau dort hinwollte: zum zarten Rühmen einer spät gewonnenen Autonomie. Raus aus der Entfremdung der erzwungenen Fürsorge für die alte Mutter (die Szenen zwischen den beiden bersten vor fast ins Schrille hochgezüchteter Komik). Entschieden raus mit dem treulosen Ehemann für immer. Und endlich voran ins Eigene, Bleibende. Wie sagt sie einmal, als Fabien, ihr zarter Schwarm, vorsichtig auf Distanz geht zu ihrer bürgerlichen Existenz? „Revolution? Ich will nur junge Leute dazu bringen, selber zu denken.“

Revolutionäre Attitüde, das war einmal. Stattdessen wird Nathalie zunehmend resolut, ruppig, abgepanzert gegen den Dauerschmerz ins augenblicksweise Asoziale. Mitfühlen soll der Zuschauer nicht in erster Linie mit der immer wieder tragikomischen Heldin von „L’avenir“, sondern eher mitdenken mit ihr. Bloß kein Mitleid, wo der Protagonistin doch so unübersehbar jedes Selbstmitleid fehlt.

Die Rolle ihre Lebens

Tatsächlich hält diese Nathalie eine wachsende Distanz zu allen und allem, und die Kamera von Denis Lenoir rückt sie in sublimer Raumaufteilung unmerklich immer weiter aus dem Bild. Erst ist sie der selbstverständliche Mittelpunkt ihrer Welt, irgendwann sucht sie sich, ausdrücklich eingeladen in gastliche Umgebungen, Plätze seitab – bis in ein hinreißend inszeniertes Finale, das sich schon beiläufig in die Filmgeschichte hineinzaubert. Denn wo behauptet sich, scheint die Regisseurin so leise wie durchdringend zu fragen, der Mensch am tauglichsten, wenn er unweigerlich älter und älter wird? Am Rande.

Manche werden nun sagen, für Isabelle Huppert ist dies die Rolle ihres Lebens. Nur hat die Ausnahmeschauspielerin sich in vielen Filmen bereits entsprechend bewährt - so ist ihr Spiel in „L’avenir“ eher die Altersrolle ihres Lebens. Mia Hansen-Løve hat das Geschehen ganz um sie herum gebaut, mit Schauspielern, die die Szenerie zwar mit Menschenwärme bevölkern, aber bewusst im Hintergrund bleiben. Ein Ensemble von Denkfiguren, die sich bald in Schemen verwandeln. „In all meinen Filmen sehne ich mich, eine Leere zu überwinden“, hat die Regisseurin einmal gesagt. In „L’avenir“ geht sie stattdessen mutig hinein. So viel Raum.

14.2., 9.30 Uhr (Zoo-Palast), 12.15 Uhr (Friedrichstadt-Palast), 21.30 (HdBF); 21.2., 12 Uhr (Friedrichstadt-Palast)

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