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Kultur: Lebe wild und gefährlich

Sebastian Baumgarten fordert von den Künstlern Mut

Ich habe das Gefühl, dass sich das deutsche Theater wie auch die deutsche Politik auf so etwas wie die „Neue Mitte“ verständigt haben. Allein der Begriff ist ein Albtraum. Da breitet sich ein Gefühl von Stillstand und Widerspruchslosigkeit in mir aus. Alle Kräfte haben sich eingependelt. Nichts zerrt mehr am Bestehenden. Abgetaucht und abgeschlossen im Entfremdungsprozess. Aber Widersprüche, extreme Positionen schaffen Bewegung.

Ich habe in diesem Land immer den Eindruck, dass einem genau diese Erfahrung erspart werden soll: Form schützt vor Erfahrung. Ähnliches ist im Theater zu erleben. Gutes Handwerk steht hier als Bollwerk vor der wirklichen Riskanz. Ergebnis ist die Bühnenfigur ohne jeden sozialen Gestus. Damit steht den sich selbst organisierenden freien Radikalen des Marktes aber keine humane Aktivität mehr gegenüber.

Und wenn ich mich anschaue? Was ich bisher erreichen wollte, ist mir in meiner bisherigen Arbeit als Regisseur – im Schauspiel wie im Musiktheater, am Staatstheater wie im so genannten Off-Bereich – nicht wirklich gelungen.

Die Produktion, die über ihren sinnlichen Ausdruck zu der sozialen, politischen Relevanz führt, die ich von mir und anderen ständig einfordere, gibt es noch nicht. Um mehr künstlerische, politische Bewegung, auch mehr Widersprüche zu initiieren, würden mir 15 Spielmacher (Schauspieler, Sänger, Musiker, Video/Audio-Spezialisten) reichen, zwei Regisseure, die sich an gleichen Fragestellungen reiben wie ich, Bühnen- und Kostümbildner mit einem großen Willen zum signifikanten Bau von Realität – und eine Intendanz, die dieser Truppe Raum und Zeit zur Verfügung stellt.

Dann könnte ein Musiktheater Wirklichkeit werden, dessen Klang sich eher an der auditiven Erfahrung der Gegenwart/Realität bemisst als an seinen eigenen Formgesetzen. Ein Musiktheater, das in der Beschäftigung mit den so genannten Klassikern endlich die Geschlossenheit des Werks aufgibt. Ein Musiktheater, dessen Darsteller die Zeit bekommen, die Verbindung zwischen ihrem hochartifiziellen Ausdruck und dem gesprochenen Wort zu suchen und auf diese Weise zu einer wirklichen Haltung zu kommen.

Sebastian Baumgarten, 35, ist Chefregisseur am Theater Meiningen. Heute hat sein Stück „Epidemic“ nach dem Film von Lars von Trier in Berlin im „Hebbel am Ufer“ Premiere. Foto: Deutsche Oper

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