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Leben und Werk von Elias Canetti: Der Weltgeist

Elias Canetti zum 100. Geburtstag: Was uns seine Vision von „Masse und Macht“ verrät – ein neuer Blick auf Leben und Werk

Elias Canetti, der heute 100 Jahre alt geworden wäre, wollte immer unsterblich sein. Doch damit meinte er, der ein Mann von stolzer Bescheidenheit war, gar nicht so sehr den literarischen Ruhm. Sondern sein physisches Leben, seine leibhaftige Existenz als Schriftsteller. Wenn es bei diesem 1981 so verdient wie überraschend mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichneten Kometen der universellen Geistesgeschichte überhaupt ein verbindendes Motiv gab, dann war es, ob in der Erotik, in der Politik oder im Alltagssein: der vehemente Einspruch gegen den Tod.

Die schicksalhaften Entscheidungen, hat Michel Foucault einmal gesagt, „bleiben für die Zeit ihrer Erzählung bekanntlich in der Schwebe“. Das Reden und das Schreiben hätten „die Macht, den schon abgeschickten Pfeil aufzuhalten“. Auch aus diesem Grund schrieb Elias Canetti an gegen den Tod: in seinen Büchern – und in seinen tagtäglichen, zur Veröffentlichung noch größtenteils gesperrten, zehntausendblättrigen stenografischen Notizen. Aber er sah die Sterblichkeit des Menschen zugleich als politische Gefahr.

Sie schürt den Todes- und Mordtrieb, jeder Todesfall eines anderen (Ungeliebten oder Unbekannten) wird dem Überlebenden zum geheimen Triumph; und wer die Macht hat, droht sie im symbolischen Stellvertreter-Tod oder wie Diktatoren im realen Mord zu missbrauchen. Shakespeare in seinem „Macbeth“ und Heiner Müller mit Blick auf Hitlers Untergang nannten das, „einen Wall von Toten gegen meinen Tod“ zu bauen.

Diese Drohung des Tötenden ist auch ein Grundgedanke von Canettis Hauptwerk: der zwischen 1940 und 1960 entstandenen, zweibändigen anthropologischen Studie über „Masse und Macht“. Man hat diesem in Deutschland zunächst fast wirkungslosen, erst durch die spätere englische Übersetzung allmählich zu internationaler Anerkennung gelangten Mammutbuch oft seine wissenschaftliche Disziplinlosigkeit vorgeworfen. Adorno sprach gar in einem berühmten Rundfunkgespräch mit Canetti vom „Skandalon“ dessen, was er „die Subjektivität des Ansatzes“ nannte. Adorno meinte Canettis Eigenart, bei diesem soziologischen Großthema ganz frei und unakademisch zwischen dichterischer Imagination, kulturhistorisch oft entlegenen Funden und philosophischer, psychologischer Spekulation zu flottieren.

Er schrieb ohne Methode, ohne Ideologie. Erst heute wird einem klar, was der Erkenntnisgewinn bei Canettis freibeuterischem Denken sein mag. Wer den Todes- und Tötungswahn des Machthabers oder des missbrauchten Ohnmächtigen in Canettis Sinne weiterdenkt in die Sphäre des autoritären religiösen Fanatismus, der dringt vielleicht tiefer ein in das Dunkel des neuen, gegenwärtigen Terrors. Und was Canetti im zweiten Band von „Masse und Macht“ auf zwei Seiten über den Zusammenhang von „Befehl und Verantwortung“ schreibt, erhellt schlagender als jede Theorie von der Banalität des Bösen, warum die Mörder in den NS-Lagern, in Srebrenica oder Ruanda nach ihren Taten, „wenn die Befehlsquelle verschüttet ist“, meist so unfasslich normal und sogar in der Überzeugung weiterzuleben vermochten, nicht sie selbst, sondern die anklagenden Zeugen lügen. Canetti selbst war freilich vom Willen zur menschenfreundlichen, machtfreien Unsterblichkeit getrieben. Darin liegt gewiss auch ein kräftiger Stich ins Naive. Ein Hauch jener altkindlichen Naivität, die Kleist nach dem Durchgang durch alle Bewusstseinsgrade als eine Rückkehr ins Paradies durch die Hinterpforte erträumte. Tatsächlich wirkte der kleine, soignierte Herr mit dem Schnauzer und der ergrauten dichten Haarrolle und seiner etwas hell und quecksilbrig oszillierenden, vieler Sprachen mächtigen Stimme immer schon wie ein altes Kind.

Ein sephardischer Jude mit spanischen, spaniolisch genannten Wurzeln und britischem Pass, der von Anfang an auf Deutsch schrieb. Canetti wurde an der bulgarischen Donaumündung in Rustschuk 1905 geboren, später in England und der Schweiz erzogen, war Chemiestudent in Wien (als Bewunderer und Bekannter von Karl Kraus), zudem zeitlebens Autodidakt in allen Wissenschaften. Als kleiner Junge nannten ihn seine Schulkameraden schon den „Merker“; sein erstes Großwerk ist mit 14 ein fünfaktiges Römerdrama; darin geht es unter anderem um die Vergewaltigung der Lucretia als Fanal der römischen Kaiserdämmerung. Ein alter, altkluger Knabe.

Zur ewigen Kindheit auch dadurch verurteilt, weil sein Vater mit 30 an einem Infarkt stirbt; da ist Elias sieben und er kann dem geliebten Vorbild nie sein Erwachsenwerden beweisen. Ein Grund mehr für den Einspruch gegen das (zu frühe) Sterben.

Canetti selbst stirbt erst 1994 im 90. Lebensjahr in Zürich, wo er neben James Joyce begraben liegt. Aber er muss über siebzig werden, bis er im deutschen Sprachraum richtig bekannt und mit seinem ersten Bestsellererfolg als Schriftsteller gleichsam zum zweiten Mal geboren wird. Das ist 1977, als „Die gerettete Zunge“, der erste Band seiner dreiteiligen Autobiografie, erscheint. Und schon der Titel beschwört wieder ein Kindheits-Trauma: die Angst vor dem Mann, der dem kleinen Elias mit einem Messer die Zunge rauben will. Der Einspruch gilt auch hier nicht einfach dem drohenden Verlust der Sprache, sondern einmal mehr ganz physisch einem Stück Leben.

Das ist sein zweites Grundmotiv. Schon in seinem frühen, von Thomas Mann brieflich belobigten Riesenroman „Die Blendung“ (von 1931, erschienen 1935) erzählt er von einem Privatgelehrten, einem „Kopf ohne Welt“, der sich aus dem Kosmos seiner 25000 Bücher auch durch die Liebe nicht ins wirkliche Leben hinüberretten lässt; Canettis Held bleibt als Ausweg aus seiner platonischen Höhle nur der Irrsinn. Und in diese Falle wollte Canetti selbst, obwohl auch er ein besessener Leser und Schreiber, nie gehen.

Als altes Kind zieht es ihn zwar jung zu einer mütterlichen Geliebten, seiner ersten und acht Jahre älteren Frau Veza, mit der er sein halbes Leben lebt und deren eigenes schriftstellerisches Werk er verschweigt. Doch Canetti hat auch viele Amouren, ebenfalls zumeist verschwiegen oder ins Undeutliche verklärt, so die drei Jahre mit der englischen Schriftstellerin Iris Murdoch. Oder sehr kurz und für Canetti schmerzlich eine Affäre mit der ihn schnell bezaubernden und wieder verlassenden Bildhauerin Anna Mahler, der Tochter des Komponisten Gustav M. und seiner Vampgattin Alma Mahler-Werfel.

Annas Blicke übrigens gaben dem Schlussband seiner Autobiografie den Titel „Das Augenspiel“. Wie sehr ihre medusische Wirkung selbst noch auf Fotos bannen kann, sieht man jetzt in der schönen Ausstellung „Elias Canetti – Das Jahrhundert an der Gurgel packen“, die im Frühjahr im Strauhof-Museum in Zürich eröffnete und seit gestern im Jüdischen Museum in Wien, danach in München Station macht. Hier findet sich, neben vielen seltenen Bild- und Ton-Dokumenten, auch der versteckte Hinweis eines anderen Literaturnobelpreisträgers. Der Amerikaner Saul Bellow lässt den Kollegen Canetti in seinem Roman „Herzog“ in einer Szene auftreten, als Bulgare namens Banowitsch: ein „seltsamer, unheimlicher Geist, fest davon überzeugt, dass stets der Wahnsinn die Welt regiert“. Bellow war Canetti nur einmal auf einer Party in London begegnet, bei der Witwe von George Orwell.

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