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Die Jungen haben den Kiez verändert. Die Pflügerstraße verliert ihre Etablissements.

© Doris Speikermann-Klaas

Lebensadern: Pflügerstraße: Komm in die Kuschelecke

Straßen erzählen Geschichten. Stadtgeschichten, Kiezgeschichten, Lebensgeschichten. In unserer Serie folgen wir den Lebensadern Berlins. Aus der Pflügerstraße verschwinden die Etablissements – Cafés und Büros kommen.

Manchmal genügt ein wenig Geduld, ein Vierteljahrhundert vielleicht, und die Gegend, in der man wohnt, wird entdeckt. So geschieht es seit drei, vier Jahren im Reuterkiez in jenem Viertel der Stadt, das nun als Kreuzkölln gelabelt wird – oder als Kreuzkotze beschimpft. So sieht man es in Riesenlettern auf einem Hausdach prangen, wenn man von der Pflüger- in die Friedelstraße biegt und zum Maybachufer läuft. Die Pflügerstraße ist eine der Achsen in diesem Kiez, zum Glück auf Höhe der Nansenstraße gesperrt, sonst wäre die Lebens- bloß eine Vekehrsader: Die Autos würden vom Kottbuser Damm über die Pflüger direkt zur Pannierstraße brettern und nicht den Umweg über Hermannplatz und Sonnenallee machen. Die Sperrung erfolgte aber nicht zur Verkehrsberuhigung, sondern wegen Einsturzgefahr.

Ich zog schon vor dem Fall der Mauer in die Pflügerstraße, in jener Epoche, in der IT noch keine Branche war, sondern die Abkürzung für Innentoilette. Über eine solche verfügte meine Wohnung, sogar über den Luxus eines Badezimmers, während manche meiner Freunde morgens unter Pumpduschen in der Küche stiegen. Damals lagen Pflügerstraße und Reuterkiez noch auf der falschen Seite des Kanals. Drüben, wo jetzt das Schimpfwort auf dem Dach steht, war SO 36, und die Lehmänner von Westberlin tranken sich durch die Kreuzberger Nächte. Hüben war bloß Neukölln. Eine Kleine-Leute-Gegend, eine nahezu studentenfreie Zone, kleinstädtisch, ärmlich, aber nicht verwahrlost wie das Herz der Neuköllner Finsternis jenseits vom Hermannplatz.

In jener fernen Epoche, als Telefonhörer noch Schnüre hatten und Haustüren Durchsteckschlösser, waren die Straßenlinden mir noch nicht über den Balkon gewachsen und ließen den Blick nach gegenüber frei. Im Erdgeschoss befand sich ein – Etablissement, obwohl das, was sich da befand, den hochtrabenden Namen kaum verdiente. An heißen Sommertagen saßen nicht wegen der Hitze, sondern wegen der Freier leichtbekleidete Mädchen auf Klappstühlen vor der schwarzen Eingangstür mit der Klingel und der Sichtklappe, rauchten Zigaretten und sahen traurig aus, von oben herab betrachtet so traurig und verlassen wie Leute auf Gemälden von Edward Hopper. Ich glaube, der Eintritt kostete acht Mark, und drinnen gab es einen Cola-Automaten und gynäkologische Filme. Das war selbst für die Pflügerstraße nicht verrucht genug, und Anfang der neunziger Jahre wich der Laden einer Bäckerei, die auch nur kleine Brötchen backte und sich nicht halten konnte. Jetzt gibt es dort Büros.

Ein anderes Etablissement im Kiez, keine drei Fußminuten entfernt, hatte ein namhafteres Schicksal. Es hieß Pigalle und heißt immer noch so. Der Schuppen war in den Fünfzigern eines dieser als Tanzlokale getarnten Anbahnungsinstitute zwischen Berlinerinnen und Befreiern. Später wurde das Pigalle als Pornobar geführt und gab Mitte der 2000er den Geist auf, wenn das der richtige Ausdruck ist. Seit ein paar Monaten betreiben junge Leute das alte Pigalle als neue „Location“. Plüschig verspielt wird die Rotlichtvergangenheit zitiert. Sehr charmant. An einem meiner raren Ausgeh-Abende habe ich beobachtet, wie in einer Kuschelecke zwei junge Menschen miteinander – Schach spielten. Charly auf der Suche nach dem Fräuleinwunder hätte sich gewundert.

Schräg gegenüber vom Pigalle steht auf einer Ladentür: „Nein, das ist NICHT das Kinski“. Ja, das Kinski ist direkt nebenan. Ich war nur einmal drin, bin nicht mehr jung genug. Dabei ist das Kinski eine der ältesten neuen Institutionen im Kiez. Das Kinski war schon hier, als die Künstler noch weg waren. Lange hielt ich es für einen Filmclub, nicht für einen pornografischen, sondern für einen cineastischen. Dabei ist es bloß ein Rumstehraum für Flaschenkinder, ähnlich wie der Raumfahrer, auch so eine Begegnungsstätte mit Gesprächsunterbindung durch laute Musik. Beim Kinski um die Ecke in der Pflügerstraße ist mein Bäcker. Lange habe ich dort Schnitteibrötchen gekauft. Bis jemand mit viel Einfluss auf mich behauptet hat, dass Schnittei in Stangen produziert wird. Deshalb seien die Scheiben immer so schön gleich. Erst habe ich es nicht geglaubt, dann habe ich gegoogelt. Seitdem kaufe ich keine Schnitteibrötchen mehr, auch nicht bei „meinem“ Bäcker, mögen dort die Eier der Scheiben von noch so ehrlichen Hühnern stammen.

Der Laden wird von türkischen Leuten betrieben, erinnert aber an ein französisches Bistro mit Baguette im Bastkorb und der typisch deutschen italienischen Kaffeeauswahl. Das Familienunternehmen vergrößerte sich nach etlichen fleißigen Jahren mit dem Restaurant Liberda nebenan. Bis dahin verkaufte dort einer jener türkischen Gemüsehändler seine Kohlköpfe und Tomaten, die nach Meinung des in Berlin weltberühmten Genetikers Thilo Sarrazin unser arisches Deutschland mit Kopftuchmädchen überfremden. Ich trauere dem Gemüsehändler nicht nach, denn am Maybachufer gibt es dienstags und freitags den Türkenmarkt. Der ist längst auch kein rein türkischer mehr, und neuerdings ist dort Samstags sogar Flohmarkt. Dass der Gemüsehändler aufgeben musste, hatte vielleicht persönliche Gründe – so ähnlich wie das Verschwinden vieler Bierkneipen, die bei meiner Ankunft im Kiez noch an jeder zweiten Ecke mit offen stehenden Türen die Tage durchdämmerten.

Diese Entwicklung ist nicht zu bedauern. Dennoch mündet die lange Geschichte des Aufgebens und Verschwindens bei allen „persönlichen“ Gründen in einen überpersönlichen Trend, der verschämt als „Gentrifizierung“ bezeichnet wird. Eine Gegend, die „trendy“ geworden ist mit ihren Clubs und Bars und Restaurants, gerade hat sogar eine hübsche Buchhandlung in der Hobrechtstraße aufgemacht. Und die als „arty“ gilt wegen der vielen Galerien und Kunststätten und dem „Kunstreuter“ und der jährlichen Kunstnacht am ersten Novembersamstag, eine solche Gegend wird schöner und reicher, aber auch kälter und teurer.

Die neuen, jungen Bewohner helfen dem Kiez auf die Sprünge, und die alteingesessenen fürchten, dass die Mietpreise hinterherspringen. In der Nikodemuskirche fand schon vor zwei Jahren eine Versammlung zur Gentrifizierung statt. Im aktuellen „Reuter“, der zweimonatlichen Stadtteilzeitung, wird von jungen Leuten, die hierherwollen, die Konkurrenz bei der Wohnungssuche beklagt, und von den alten, die schon da sind, das Drehen an der Preisschraube. Und auf dem „Campus Rütli“ wurde neulich eine Anwohnerdiskussion zum Thema Freiflächenbebauung ausgerichtet.

Zugleich ist die Rütlischule selbst ein gutes Beispiel dafür, dass früher nicht alles besser war. Die Rütlistraße geht von der Pflüger ab. Vor fünf Jahren ließen sich dort Kamerateams auf dem Schulhof gegen Bezahlung Klappmesser zeigen. Inzwischen entsteht eine privilegiert betreute Gemeinschaftsschule, die von anderen Neuköllner Schulen, die keine mediale Aufmerksamkeit genießen, beneidet wird. Ein Rütli-Förderverein organisiert auch das jährliche Straßenfest in der Pflüger, dort, wo sie durch die Sperrung glücklich geteilt ist. Die Veranstaltung heißt kalauernd „Fett de la Musique“. Fett? Das dicke Ende kommt erst noch, fürchten viele Anwohner.

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