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Kultur: Legenden

Nicht nur die Berlinale, auch Progress-Film wird 60

Durfte man das kinematografische Berlin ganz dem Klassenfeind überlassen? Als vor 60 Jahren der US-Filmoffizier Oscar Martay den Berlinale-Gründungsausschuss einberief, dachte man auch in Moskau über ein eigenes Stück vom deutschen Film sowie dessen Verbreitung nach. Am 20. August 1950 wurde der Progress-Filmverleih als deutsch-sowjetisches Unternehmen in der DDR gegründet. Berlinale und Progress, zwei Kinder des Kalten Krieges.

Die eine ist eine strahlende 60-Jährige – und der kleine Paralleljubilar? Dieter Kosslick trägt gewöhnlich einen roten Schal, der Progress-Geschäftsführer einen blauen. Mag schon sein, dass die Berlinale in ihrer Geschichte 15 000 Filme gezeigt habe, erklärt Jürgen Haase bei der Pressekonferenz, schaut lächelnd in die morgendliche Austernbar und fährt fort: So viele befänden sich allein unter der Obhut des eigenen Verleihs. Der gesamte Filmstock eines Landes, beispiellos! „Ein Schatz“, nimmt ihm Kulturstaatsekretär André Schmitz das Wort aus dem Mund, und, Progress sei Dank, „nicht verloren gegangen in der Marktwirtschaft“. Wer hätte 1990 vom Defa-Erbe als Schatz gesprochen? Und wer hätte darauf wetten wollen, dass ausgerechnet Progress, der Staatsmonopolist, überleben würde? Der blau umschalte Haase zählt fünf „Säulen“ seines Verleihs auf, eine davon: Jeden Abend läuft irgendein DDR-Film auf irgendeinem deutschen Sender. Katrin Sass nickt versonnen.

Mach mal den Fernseher an!, las sie eben erst in einer SMS, und dann sah sie den Film wieder, mit dem sie 1982 den Silbernen Bären gewann. „Bürgschaft für ein Jahr“ sei im Unterschied zu ihr kein Jahr älter geworden. Welch gespenstische Aktualität besitze diese Geschichte einer alleinerziehenden Frau, die das Sorgerecht für ihre drei Kinder zu verlieren droht.

Bald wird Katrin Sass einen nagelneuen Filmpreis in der Hand halten. Denn warum soll nur die Berlinale auf der Berlinale Preise vergeben? Ab sofort gibt es nicht nur Lolas, Bären und Cäsars, sondern auch die Paula, benannt nach Angelica Domröses Rolle aus Heiner Carows legendärer „Legende“. Starke Frauen waren die große Leidenschaft des DDR-Kinos, Katrin Sass hat sie oft gespielt und gehört zu ihnen, auch jenseits der Kamera.

Kalte Krieger werden nie erwachsen. Die Berlinale aber wurde es spätestens 1975, als sie im Zeichen der Ostpolitik mit „Jakob, der Lügner“ den ersten DefaFilm zeigte. Heute scheinen die gemeinsame Sprache, die gemeinsame Vergangenheit und die gemeinsame Herkunft das geteilte Filmland weniger denn je zu trennen. Icestorm hat soeben eine Sonderedition „Defa-Filme auf der Berlinale“ herausgebracht und der be.bra-Verlag zum gleichen Thema das Buch „Zwischen uns die Mauer“. Kerstin Decker

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