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Kultur: Lenin, verjagt von Berg und Platz

Der Sammelband „Berlin – Moskau“ bietet Tatsachen und Ansichten über die beiden Metropolen

Sein ganzes Leben lang hat Lew Rubinstein in Moskau gewohnt. Heute ist der Schriftsteller und Künstler nicht mehr so sicher, ob er immer in derselben Stadt gelebt hat, so stark hat sich die russische Hauptstadt verändert. „Mein Leben lang war ich auf einer spannenden Reise von Moskau nach Moskau“, sagt Rubinstein. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat die Stadt eine Zeitenwende erlebt, ähnlich wie Berlin nach dem Mauerfall – und doch ganz anders.

Den Vergleich der beiden „Metropolen im Wandel“ wagten im vergangenen September deutsche und russische Architekten, Wissenschaftler, Publizisten und Schriftsteller bei den „Potsdamer Begegnungen“, dieses Mal in Moskau. Daraus ist inzwischen ein Buch entstanden, das zwei Städte auf der Suche nach ihrer Identität beschreibt.

Zufrieden mit „ihrer“ Stadt ist dabei keine der beiden Seiten. Berlin hat im vergangenen Jahrzehnt seine zweiten Gründerjahre erlebt – doch diese seien nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit gerichtet, kritisiert Matthias Sauerbruch. Das Experiment fand nicht statt: Der Berliner Architekt sieht in der Entwicklung der Hauptstadt eine „aus Mangel an Vorstellungskraft“ nicht genutzte Chance. In den Mittelpunkt der innenstädtischen Baupolitik trat die Orientierung an historischen Mustern. Kanzleramts-Architekt Axel Schultes fragt, ob das Berliner Stadtschloss wirklich wiederaufgeführt werden müsse, als „Verrat an der eigenen Zeit“.

Ganz ähnlich – und doch ganz anders – ist die Situation in Moskau: Auch hier orientiert sich die Architektur an der Vergangenheit. Dabei ist der Stil der Stalin-Zeit keineswegs verpönt, im Gegenteil: Die im Westen als „Zuckerbäckerstil“ verlachte Stalin-Gotik ist heute wieder Vorbild für eine Architektur, die nicht westliche Trends nachahmen, sondern sich auf das Eigene besinnen will. Den sieben Hochhäusern aus der Stalin-Zeit wird sich bald ein architektonischer Verwandter hinzugesellen: Im Norden Moskaus entsteht derzeit der monumentale „Triumph-Palast“. Und die Moskauer Stadtregierung kündigte den Bau von insgesamt 60 Hochhäusern im Stil der „Stalin-Gotik“ an, wie Tagesspiegel-Redakteur Bernhard Schulz berichtet.

Andere Autoren bemängeln indes, dass Moskaus Stadtplanung in erster Linie auf Profit ausgerichtet ist – die Behörden verdienen an den zahlreichen Bauvorhaben kräftig mit. Der Niederländer Bart Goldhoorn, Herausgeber der Moskauer Architekturzeitschrift „Project Russia“, sieht daher in Russlands Hauptstadt die Epoche eines „kapitalistischen Realismus“ heraufziehen.

Dabei wird es in Russland immer schwerer, öffentlichen Raum für die erst im Entstehen begriffene Bürgergesellschaft zu reklamieren. Zu Sowjetzeiten galt das Private nichts, das Individuum sollte ganz in der Gesellschaft aufgehen. Von den eigenen vier Wänden konnten die Bewohner der Kommunalkas, der Gemeinschaftswohnungen für mehrere Familien, nur träumen. Heute gibt es dagegen eine Tendenz zur Privatisierung des gesellschaftlichen Raumes, wie die Geografin Olga Wendina schreibt. Von der Außenwelt abgeschottete Wohnkomplexe, von Mauern umgeben und von Wachdiensten geschützt, werden bei denen, die es sich leisten können, immer beliebter.

Beide Städte, Moskau und Berlin, haben von ihren öffentlichen Plätzen und Straßen zumindest oberflächlich Spuren der jüngsten Vergangenheit beseitigt. Moskaus Leninberge heißen längst wieder Sperlingsberge, aus Berlins Leninplatz wurde der Platz der Vereinten Nationen. Nach der Wiedervereinigung machte Bundeskanzler Schröder nur vorübergehend im alten Staatsratsgebäude Station. Dagegen ist der Kreml nach wie vor der innere Kreis der Macht geblieben.

In der Sowjetunion sollte der öffentliche Raum eine bestimmte Idee von Herrschaft ausdrücken. Riesige Plätze für Paraden, Stadien und monumentale Denkmäler prägten das Stadtbild. In dem Maße, wie die Sowjetunion in sich zusammenfiel, lernten die Menschen den öffentlichen Raum für sich zu erobern. Schon in Zeiten der Perestrojka wurde der Park am Puschkin-Denkmal beliebter Treffpunkt von Schwarzhändlern, Punks und späten Hippies. Für den Schriftsteller Rubinstein ist der Puschkinpark heute das eigentliche Zentrum Moskaus – das, was trotz allem unverändert geblieben ist.

Wolfgang Eichwede, Regine Kayser (Hrsg.): Berlin – Moskau. Metropolen im Wandel. Jovis Verlag, Berlin 2003, 160 S, 24,80 €.

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