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© dpa

Leonardo: Der Da-Vinci-Code

Ein italienischer TV-Journalist will ein Leonardo-Selbstporträt entdeckt haben. Eine Sensation? Experten bezweifeln das.

Es klingt wie ein Kunst-Thriller, den sich der Bestsellerautor Dan Brown nicht besser hätte ausdenken können. Schenkt man dem italienischen Fernsehsender RAI Glauben, ist der Da-Vinci-Code entschlüsselt. Der Wissenschaftsjournalist Piero Angela, ein 80-jähriger Veteran des Mediums und einer der beliebtesten Moderatoren des Landes, will ein bislang unbekanntes Selbstporträt von Leonardo da Vinci entdeckt haben. Bei einer Pressekonferenz in Rom und einen Tag später in seiner Fernsehsendung präsentierte er die Rötelzeichnung eines Mannes mit großer Nase, korkenzieherartig geschwungenen Haaren und dünnem Bart.

Er fand sie in Leonardos „Codex über den Vogelflug“ von 1505, der in der Biblioteca Reale in Turin aufbewahrt wird, als Palimpsest unter den in Spiegelschrift notierten Aufzeichnungen des Malers. Erst war Angela nur die Nase aufgefallen, dann veranlasste er Röntgenaufnahmen des Blattes, und unter der Schrift tauchte – es muss ein magischer Moment gewesen sein – das komplette Gesicht des Genies auf. So wie Leonardo uns nun aus seinen schwer entzifferbaren, rätselhaft anmutenden Buchstaben anschaut, so glaubt die Welt ihn ohnehin zu kennen: mit mürrisch zusammengepressten Lippen, in Gedanken versunken, ein Asket und Emerit.

Denn bis in die penibel schraffierte Verschattung unter der halb belustigt, halb angewidert gerümpften Nasenspitze hinein scheint das neu aufgetauchte Bild Leonardos berühmtem Selbstporträt zu entsprechen, das ins Jahr 1512 datiert wird und ebenfalls der Turiner Bibliothek gehört. Nur dass hier die Stirnpartie und ein Großteil der Locken fehlen, was Leonardo luftiger, lockerer, jünger wirken lässt. 1512 war er 60 Jahre alt, er hatte noch sieben Jahre zu leben. Nach den Maßstäben des 16. Jahrhunderts war Leonardo ein alter Mann, er hatte sein monumentales Wandgemälde der Anghiarischlacht für den Ratssaal im Palazzo della Signoria in Florenz nicht vollenden können, war in Streit mit den Auftraggebern geraten und ins Exil nach Frankreich gezwungen worden, was die Unlust seines Gesichtsausdrucks erklären mag. Bei der jetzt aufgetauchten Zeichnung könnte es sich, allem Augenschein nach, um eine Vorstudie für das Turiner Selbstbildnis handeln, das als einziges Selbstporträt aus Leonardos Hand gilt und unser Bild von ihm und von einem Genie überhaupt geprägt hat. Soll nicht schon Aristoteles so ausgesehen haben, und nimmt dieser wirrköpfige Herr nicht auch die irre Klugheit des ebenso stachelborstigen Einstein vorweg? Piero Angelas Entdeckung: eine Sensation.

Eine Sensation? Wohl kaum. Angela habe „eine Hypothese mit der nächsten Hypothese erklärt“, sagt der Leonardo-Experte Frank Zöllner, Kunstgeschichtsprofessor an der Universität Leipzig. Schon die Authentizität des Turiner Selbstporträts von 1512 ist umstritten, ein Teil der Forschung hält es für eine Fälschung aus dem frühen 19. Jahrhundert. „Und schauen Sie doch mal genau hin“, fordert Zöllner auf, „das Bild aus dem Vogelflug-Codex und das Selbstporträt von 1512 ähneln sich nicht wirklich: Die Nasenspitze und die Augenbrauen sind ganz anders, der Mann im Codex ist mindestens zwanzig Jahre jünger.“ „1512“ ist ohnehin eine sehr grobe Datierung, die man der Zeichnung gab, weil Leonardo zu diesem Zeitpunkt 60 war, mithin alt. Stilkritisch betrachtet gehört die Zeichnung eher in die Jahre um 1500. Da war Leonardo 48. 1512 könnte er irgendeinen anderen alten Mann gezeichnet haben.

Leonardo war der „uomo universale“ schlechthin, nicht nur Maler, sondern auch Anatom, Hirnforscher, Stadtplaner, Astronom, Schöpfer von Kriegsmaschinen und Bewässerungsanlagen. In seinem Codex von 1505 hat er das Flugverhalten der Vögel beschrieben und kommentiert, sein Text und die vignettenhaften Zeichnungen feiern das Prinzip der Aerodynamik. Leonardo entwarf auch Flugapparate. Gebaut und benutzt hat er keinen. Zum Glück. Er wäre abgestürzt. Bruchlandungen erleben seine Entschlüsseler.

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