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Heike Bachelier:Ein ganz normaler Feind. Das Leben des Peter Wulkau in den Akten der Stasi.

Heike Bachelier:

Ein ganz normaler Feind. Das Leben des Peter Wulkau in den Akten der Stasi. Droemer Verlag, München 2012. 416 Seiten, 22,99 Euro.

Auf die Frage des IM „Karen“, ob seine Berichte bei der Staatssicherheit zuverlässig unter Verschluss seien, antwortete ihm Major Schulze im März 1984 beschwichtigend, „dass die Schränke des MfS dicht sind, solange wir das wollen“. Es würde ausschließlich an ihm liegen, ob diese Schränke dicht blieben. Welch ein Irrtum! An IM „Karen“ hat es jedenfalls nicht gelegen, dass die Schränke der Stasi schließlich doch gegen deren Willen geöffnet wurden und das Wirken ihrer offiziellen und inoffiziellen Mitarbeiter offenbarten. Über ihre Aktenbestände wacht heute eine Behörde, die es zu ihrer Aufgabe gemacht hat zu dokumentieren, „was sichtbar von fast 40 Jahren geheimpolizeilicher Tätigkeit in der DDR übrig blieb“. So formuliert es Behördenleiter Roland Jahn im Vorwort zum vorliegenden Buch der Dokumentarfilmerin Heike Bachelier, die anhand eines „ganz normalen“ Einzelfalls den Versuch unternimmt, den „Verrat von Menschen an Menschen durch die minutiöse Zusammenstellung der Stasi-Akten zu dokumentieren“. Feindberührung heißt ihr Film, auch das eine Anleihe bei IM „Karen“, der von der Stasi als Inoffizieller Mitarbeiter mit Feindberührung geführt wurde. Der Feind war ein damals, 1968, junger Mann namens Peter Wulkau, der durch das Wirken der Staatssicherheit und ihrer Zuträger vom Studium ausgeschlossen und schließlich wegen eines im Geheimen geschriebenen, nie veröffentlichten Romans zu vier Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt wurde, bevor er 1981 in die Bundesrepublik ausreisen durfte. Eine Kommilitonin in Leipzig hatte ihn als Mitglied einer studentischen Diskussionsrunde wegen der Lektüre von „Westliteratur“ denunziert und damit einen Operativen Vorgang (OV) ausgelöst, mit dem Wulkaus Laufbahn als Staatsfeind beginnt und 1974 in einen zweiten OV „Kreis“ mündet, an dessen Ende das Urteil wegen „staatsfeindlicher Hetze“ steht. Heike Bachelier hat es sich versagt, seinen Fall als reißerische Story aufzuarbeiten, sondern setzt ihn als dokumentarisches Mosaik aus den Aufzeichnungen der Staatssicherheit zusammen: eine Abfolge von Observationsprotokollen, Treffberichten mit Inoffiziellen Mitarbeitern, abgefangenen Briefen, „Einschätzungen“ und Beurteilungen durch Vorgesetzte und Stasi-Offiziere, Spitzelberichten von Mithäftlingen und Quittungen über Agentenlohn zwischen 10 und 2000 Mark der DDR. Die Falldarstellung folgt aus der Täter- statt aus der Opferperspektive, übrigens mit Zustimmung und unter Mitwirkung von Peter Wulkau, der in einem eigenen Nachwort bekennt, er habe die Fokussierung des Blicks auf die IM der Staatssicherheit nie teilen können. Er lenkt den Blick vielmehr „auf die Kaderleitungen und auf die Kaderpolitik als das entscheidende Herrschaftsinstrument … Ohne Mitarbeiter bestimmter Lehrer und Erzieher, Journalisten, Juristen, Wissenschaftler, Pfarrer und auch von Abteilungsleitern in Behörden, oft im vorauseilenden Gehorsam, hätte das System keine Chance, sich so zu entwickeln, wie es sich entwickelt hat: Ein Staat, ein Land ohne eine funktionierenden Zivilgesellschaft“. Er selbst hat übrigens dem einzigen IM, der sich bei ihm entschuldigt hat, während der Dreharbeiten verziehen. Andere IM, darunter ein evangelischer Geistlicher, entziehen sich der Konfrontation bis heute – ganz normale Freunde von damals. Hannes Schwenger

Hannes Schwenger

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