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Hauptstadt der Verschwörungstheorien. Kunstrosen auf der winterlichen Park Avenue. New York im Januar 2011. Foto: Kiram Melzer/dpa

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Lethem-Roman "Chronic City": Die Festung der Paranoia  

Umwölkt von Marihuana: Jonathan Lethems Roman „Chronic City“

Es gibt Autoren, deren Romane verströmen Jahrmarktatmosphäre. Jonathan Lethem, der vor knapp zehn Jahren mit seinen Crossover-Geschichten „Die Festung der Einsamkeit“ und „Motherless Brooklyn“ zum Liebling der US–Literaturszene wurde, gehört dazu. Das Personal seines neuen Romans umfasst: einen Verschwörungstheoretiker; einen entlaufenen Zoo-Tiger; einen dreibeinigen Pitbull; den ehemaligen Kinderstar einer Sitcom sowie die interstellaren Liebesbriefe seiner durchs Weltall trudelnden Astronauten-Braut Janice. Jonathan Lethem hat mit „Chronic City“ ein beachtliches Konglomerat wirrköpfiger Charaktere geschaffen – und das auf fruchtbarem Boden: „In Manhattan zu leben bedeutet, ständig darüber zu staunen, wie viele Welten hier ineinander verschachtelt sind, mit welch chaotischer Komplexität sie sich verschränken, ähnlich den Fernsehkabeln und den Wasser-, Heizungs- und Abflussrohren, die gemeinsam die selben Schächte bevölkern, die Straßenarbeiter regelmäßig vor unseren vorbeiziehenden, verwirrten Blicken freilegen.“ Jonathan Lethem benutzt diese wenig originelle Alltagsbeobachtung, um die im Roman tot gesagte Stadt New York einer Autopsie zu unterziehen – digital ausgedrückt: einer Freilegung ihres (kapitalistischen) Quellcodes samt Klärung der Frage, was dieser besagt. Die Schürfarbeiten beginnen am Küchentisch eines abgetakelten Popkritikers des New Yorker Underground. Perkus Tooth verfügt über ein Schielauge sowie die asexuelle Aura eines Hungerhakens. In seinem Upper-East-Side-Apartment entwickelt er in Anwesenheit eines erlauchten Freundeskreises Verschwörungstheorien, in denen Marlon Brando als Unterleibsdarsteller eine gewisse Rolle spielt. Tooth, erfährt man, sei jemand der „die Alltagsrealität anhand eines Koordinatensystems kultureller Marginalien auf den Prüfstand stellt“. So wird er zu einer Art Orakel, das die Übergriffe des entlaufenen Tigers auf seine eigene Weise zu deuten weiß. Der Tiger sei eine außer Kontrolle geratene Maschine, von der Stadt eingesetzt, um ihre Feinde aus mietpreisgebundenen Häusern zu vertreiben. Bürgermeister Arnheim, ein Bloomberg’scher Medienmogul, steckt hinter dem Bluff, der sich bald als groß angelegtes Simulationsprojekt entpuppt zur Täuschung von ... ja von was eigentlich? Ausgerechnet Arnheims engste Mitarbeiterin Claire Carter hat ihre Finger im Spiel. Ihr Bruder ist der Erfinder eines Onlinedienstes namens „Yet Another Life“. Dort hüten zeitgenössischerweise Avatare einen Schatz von Tongefäßen (Kaldrone), denen Perkus und seine Freunde bei einer aberwitzigen Ebay-Auktion verfallen: „’Ich ... will ... es ... ficken’, sagte Richard. Weiterhin wird die New York Times als „Realitätsmacherin“ bezeichnet und bietet ihren Lesern „kriegsfreie“ Ausgaben. Allen voran sei Perkus’ bester Freund, der ehemalige Schauspieler mit dem sinnfälligen Namen Chase Insteadman, nichts als ein „Darsteller“ in einem ominösen Drehbuch. Auch dessen Verlobte, die in einen chinesischen Hinterhalt geratene Astronautin, könnte Teil dieser Verschwörung sein. Perkus’ Akupunkteur indes bestätigt seinem Patienten, was dieser selbst längst ahnt: „Sie betrauern einen Verlust, den die Welt erlitten hat. Etwas, das im kollektiven Gedächtnis schlummert, aber nicht angemessen erinnert wird.“ Das Buch wirkt, als sei es im Dunstkreis einer Marihuana-Wolke der titelgebenden Sorte „Chronic“ auf die schiefe Umlaufbahn geraten. Bei der Steuerung folgt Lethem der Erkenntnis seines Helden, der Paranoia für eine „Blume des Gehirns“ hält. Doch paranoides Schreiben ist eine Blume mit Blößen. Für eine ordentliche Sci-Fi-Geschichte ist „Chronic City“ zu verdrogt. Die Beschreibung der Welt aus Sicht eines Schizophrenen scheidet durch den unbedingten Willen zur literarischen Weltverschwörung ebenfalls aus. Und eine Romanze? „Ich meine, ich würde auch unter deinem Fenster singen, aber ich weiß nicht, welches es ist.“ „Vielleicht habe ich gar kein Fenster.“ „Vielleicht kann ich gar nicht besonders singen.“ „Okay, na dann, das hört sich doch gut an.“ „Perfekt.“ Wohl kaum. Einige hübsche Einfälle hatte Lethem dann doch. Sein Roman geht von einer an Stanislaw Lem geschulten Simulationsphantasie des heutigen, vom Geld regierten Manhattan aus. Doch der Betrug wird sichtbar durch unkontrollierbare Wahrnehmungsrisse. Bei Perkus haben sowohl das wandernde Auge als auch sein ewiger Schluckauf Hiatusfunktionen. So kann er das raum-zeitliche Kontinuum der Simulation verlassen und sich in den Quellcode der Stadt hacken. Für seinen Blick über den Tellerrand muss Perkus allerdings mit dem Leben bezahlen. In bester Erlösermanier verwandelt er sich kurz vor seinem Tod in „Mister Pincus Truth“. Aber ob dessen Wahrheit, die den Leser auf Seite 440 unvermittelt trifft, noch etwas in ihm bewirkt? Es wäre eine leichte Pointe, übermäßigen Drogen-Konsum für dieses Wirrwarr von einem Buch verantwortlich zu machen. Was aber, wenn Jonathan Lethem etwas ganz anderes im Sinn hatte: eine National-Anamnese mit literarischen Mitteln? Paranoia, das wäre dann die Botschaft, führt nicht nur zu einer verrückten Gesellschaft, sondern liefert ihr auch die Bücher, die sie verdient. Die Verschwörer befänden sich damit mitten unter uns – als Agenten des Literaturbetriebs.

Jonathan Lethem

Chronic City. Roman. Aus dem Amerikanischen von Johann Christoph Maus und Michael Zöllner. Tropen, Stuttgart 2011. 453 Seiten, 22, 90 €.

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