zum Hauptinhalt
Noch nicht Nacht. Der grNoch nicht Nacht. Der große Theaterregisseur Hans Neuenfels starb am 6. Februar dieses Jahres in Berlin.

© picture alliance / dpa

Letzte Texte von Hans Neuenfels: Der komische Vogel aus Krefeld

Vom Widerstand gegen die kleinen Tode im Leben: Jetzt sind in dem Band „Fast nackt“ die letzten Texte des großen Stilisten Hans Neuenfels erschienen.

Als der kaum zwanzigjährige, an Dichtung und Kunst früh entzündete Hans Neuenfels Anfang der 1960er Jahre dank einer persönlichen Empfehlung dem Maler Max Ernst begegnete, dessen Assistent er dann auch für ein Jahr in Paris werden durfte, stellte ihm der große Surrealist eine unerwartete Frage. Max Ernst sagte, er habe, wie man wohl wisse, eine Vorliebe für Vögel. „Als welche Vogelart würden Sie uns beide bezeichnen?“

Worauf der selbstbewusste Junge wie aus der Pistole geschossen erwiderte: „Zaunkönig und Krähe.“

Tatsächlich hatte der im Februar verstorbene Hans Neuenfels auch selbst eine bisweilen surreale Neigung zu allerlei Tieren. Vögel, Hunde, Bienen oder Ratten, die er in seinen legendären Operninszenierungen zur allgemeinen Verwunderung in Menschentiergestalt auftreten ließ. Max Ernst nannte den schlagfertigen Eleven in Anspielung auf dessen Geburtsort einen „komischen Vogel aus Krefeld“ – und die Mischung aus Zaunkönig und Krähe hätte Neuenfels wohl auch als eigenes Spiegelbild gefallen. Seine 2011 erschienene Autobiografie trug ja nicht umsonst den Titel „Das Bastardbuch“. Im zoologischen Garten der Künste war Hans Neuenfels die Promenadenmischung aus Dichter, wildem Denker und höchst leidenschaftlichem Theater-, Opern- und Filmregisseur.

Plötzlich aber, in seinen letzten Lebensjahren, geschieht ein äußerer wie innerer Bruch. Gerade noch im Musiktheater zwischen Berlin, München, Wien, zwischen Bayreuther und Salzburger Festspielen auf dem Gipfel des Erfolges, erfährt Neuenfels, dass eine seiner Nieren schon tot (der Arzt sagt „still“) sei und die andere schwer geschädigt.

Der letzte, lebensverlängernde Akt bedeutet, in absehbarer Zeit dreimal wöchentlich für mehrere, in ihrer Monotonie zermürbende Stunden an eine Dialysemaschine angeschlossen zu werden. Weil er deshalb keine große Inszenierung mehr schaffen kann, setzt Neuenfels, der 1959 mit gerade 18 Jahren in der kleinen renommierten Erememitenpresse seinen ersten Gedichtband „Ovar und Opium“ veröffentlicht hatte, zum Ende seines Lebens wieder auf das Schreiben. Fängt damit schon vor der Dialyse an, wohlwissend, dass die Behandlung keine Heilung mehr bringen werde.

Haltung mit unbestechlicher Ironie

Ein Buch selbst abschließen, das gelang ihm allerdings nicht mehr. Doch aus dem Hinterlassenen hat Elke Heidenreich als Freundin und Vertraute, versehen mit einem schönen Nachwort, den Neuenfels-Band „Fast nackt. Letzte Texte“ zusammengestellt. Es sind neun Prosastücke und 22 Gedichte.

Der stolze Zaunkönig jetzt nur noch eine gerupfte Krähe, mit gebrochenen Flügeln? Hans Neuenfels mag sich in Momenten der inneren Verzweiflung durchaus so gesehen haben. Aber als Mann mit Haltung, Stil und unbestechlicher Ironie intoniert er nun keinen selbstmitleidigen Klagegesang. Formuliert auch nicht, wie einst Elias Canetti, einen zornigen Widerspruch gegen den Skandal der eigenen Sterblichkeit. Er beobachtet vielmehr den eigenen Körper, die eigenen Sinne mit immer mit kühlem Kopf und warmem Herzen. Mit dem denkenden Herzen.

Reflexion und Gefühl verbinden sich vor allem, wenn in den autobiografischen Passagen die lebenslange Partnerin Elisabeth Trissenaar, der Sohn (und Filmemacher) Benedict und Enkel Emil ins Spiel kommen. Über sich selbst und seine Frau schreibt er: „Rücken an Rücken / Das Theater dazwischen / Wenden wir uns zueinander …“ Das ist, im Gedicht, so einfach wie vieldeutig gesagt. Mit Blick auf Mozart heißt es gar, provokativ, radikal, widerspruchsvoller: „Wo die Liebe aufhört, beginnt die Kunst.“

Elke Heidenreich war eine langjährige Freundin von Neuenfels, sie hat die Textsammlung editiert und das Vorwort geschrieben.
Elke Heidenreich war eine langjährige Freundin von Neuenfels, sie hat die Textsammlung editiert und das Vorwort geschrieben.

© Henning Kaiser/dpa

Neuenfels ist so bedeutungsoffen wie schon in seinem 1992 veröffentlichten Roman „Isaakaros“, wie später im „Bastardbuch“ und dem wunderbaren Band über Busoni, Verdi, Mozart, Schumann oder die Dichterin Sylvia Plath „Wieviel Musik braucht der Mensch?“. Seine Prosa und mitunter auch die Lyrik oszilliert zwischen Erzählung und Essay, Epos und Aphorismus. Den Spazierstock, die vornehmste Gehhilfe im Alter, macht sich Neuenfels beispielsweise zum familiären Gefährten. Der Text beginnt: „,Stocksteif, stocksteif’, höhnten die Krähen.“ Wieder die Krähen! Zum Schluss aber heißt es über den ererbten Stock des Großvaters, er sei unten abgeschliffen und habe kein spitzes Ende. „Er ist nicht für Gegner gemacht. Er ist ein Pazifist. Ein Duellant des Gehens und des Redens. Ich hoffe, auch damit kommt man weiter.“

[Behalten Sie den Überblick: Jeden Morgen ab 6 Uhr berichten Chefredakteur Lorenz Maroldt und sein Team im Tagesspiegel-Newsletter Checkpoint über die aktuellsten Entwicklungen rund um das Coronavirus. Jetzt kostenlos anmelden: checkpoint.tagesspiegel.de.]

Kein pauschaler Aufstand gegen das Lebensende

Nicht nur in solchen Sätzen schwingt alter und neuer Subtext mit. Grandios wirkt indes, wie Neuenfels keinen pauschalen Aufstand gegen das Lebensende probt, sondern den Widerstand gegen die kleinen Tode im Leben beschwört. Nicht als illusionären Protest, vielmehr in der harten Erkenntnis, wie die Krankheit im Alltag der Medikamente, der zunehmenden Einschränkungen und haarkleinen Diätvorschriften übermächtig wird. Einst hatten die Schauspielerin Elisabeth und der Regisseur Johannes – so spiegeln sich in der Titelgeschichte „Fast nackt“ Ego und Alter Ego – alle Mühen der Ebene in ihrem Beruf, in ihrer Kunst entschieden hinter sich gelassen und das Leben spielerisch erweitert, gesteigert, beglänzt.

(Hans Neuenfels: Fast nackt. Letzte Texte. Mit einem Nachruf von Elke Heidenreich. Eisele, München 2022. 259 S., 24 €)

Jetzt jedoch, schon bevor Johannes an die Maschine kommt, notiert er im epischen Imperfekt: „… dass sich das Triviale wie Unkraut nach vorne drängte, höher wucherte … und dieses unangenehme Jucken hervorrief, diese Alltagskrätze, das schwere Atmen von Normalnebel und das leichte Unwohlsein von der beständigen Banalität.“

Dialyse und Analyse. Das Vertreiben des „Normalnebels“ auch durch sprachliche Schönheit. „Fast nackt“ ist schonungslos, aber nie trostlos. Voller Melancholie und zugleich voller Humor. So gibt es die originelle Erzählung „Duisburg in New York“, in der Neuenfels einerseits die selbst erlebte Flucht aus der rhein-ruhrpottigen Provinz reflektiert, aber auch überraschende Verbindungen schafft. Duisburg und New York haben beide bedeutende Häfen, im einen kommen mehr Waren an, im anderen mehr Menschen. Ein schlagendes Bild. Auch eines der Bewegung, ob beim Gehen am Stock oder im Gedankenflug.

Die letzte poetische Strophe: „Gestern zeugte, begrub mich / Und hatte endlich Grund.“ Danach folgen noch zwei kurze Texte, und die beiden letzten Sätze lauten: „Ich bin noch unterwegs. Es ist noch nicht Nacht.“ Noch nicht Nacht. Drei Worte wie aus dem Kopf von Beckett. Das bleibt, das lebt weiter.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false