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Kultur: Leuchtende Treue, lähmende Angst

Norah Lange, Borges’ Muse, erinnert sich an ihre Kindheit

Man könnte ein Inventar der Nostalgie anlegen und die Dinge sammeln, die in Norah Langes fiktionalisierten Kindheitserinnerungen wie eine „Landschaft hinter einem beschlagenen Zugfenster“ auftauchen: weiße Matrosenkleider, weite Röcke kleiner Reiterinnen, eine riesige Krinoline, Orangenblütenkränzel, weißer Tüll. Die Dienstboten im Arbeitszimmer des Vaters, den seine Töchter nie ohne Kragen sahen. Der Kinematograph, die Teetische vor der Leinwand. Fundorte dieser Dinge sind das Landgut in Argentinien, auf dem Norah mit vier Schwestern und dem Bruder inmitten der Hausangestellten lebt, später das Haus in Buenos Aires, in das die Familie nach dem frühen Tod des Vaters zieht. Dort wird alles peu à peu verkauft, zuletzt der Konzertflügel. Die Familie verarmt.

In den Katalog von Langes Kindheit gehören auch die Stimmungen und Gefühle, die so ganz kindlich sind: unberührbare Zärtlichkeit, leuchtende Treue, die lähmende Angst vor dem Hässlichen und das gastliche Nähzimmer der Mutter. Die Vorstellung, dass eine Frau umso vollkommener ist, je öfter sie in Ohnmacht fallen kann. Die Sehnsucht, sich nackt dem Mondlicht auszusetzen. Die Scham zu beten, die Scham zu hungern.

Auch damit wäre der Katalog nicht vollständig. Zu ihm gehören auch die eleganten Formulierungen, die die reife Schriftstellerin Lange, die Muse, Freundin und Verwandte von Jorge Luis Borges auszeichnen. Sie beschreibt Fledermäuse, die „wie dunkle und faltige Lappen“ von der Decke hängen, „unförmige und üppige Umrisse“ einer Köchin, deren Gerichte an die Transzendenz erinnern, oder die „Ernsthaftigkeit“ des Schlafs.

Norah Langes „Kindheitshefte“ rufen all dies in 82 kleinen Abschnitten in Erinnerung. Sinnbildlich für ihren Stil ist, dass sie in jedem Abschnitt zuerst von „ihr“ oder „ihm“ spricht und erst einige Sätze später sagt, um wen es geht. Nur Erwachsene denken zuerst an Namen, Kinder sehen Bilder. Lange hält zarte, berührende Bilder ihrer Kindheit fest, die ihr bald wieder entgleiten: das Licht im Fenster der ältesten Schwester verlöscht, der Spaziergang wird beendet, sobald er zu schön ist. Die fünf Schwestern spielen ein Spiel: Der Wind soll zeigen, welche von ihnen als Erste stirbt. Als ob das noch nicht melancholisch genug wäre, brechen sie das Spiel auch noch verängstigt ab, worüber sie sich zu guter Letzt grämen. Man kann eine Kindheit nicht inventarisieren. Dieses Buch vermag das auch nicht. Aber wer es gelesen hat, wird sich daran erinnern. Christophe Fricker

Norah Lange:

Kindheitshefte. Aus dem argentinischen Spanisch und mit

Einführung zur Autorin von Inka Marter. Lilienfeld Verlag,

Düsseldorf 2010.

232 Seiten, 19,90 €.

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