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Kultur: Licht im Stall

Fleisch und Lehm: eine Erzählung von Siegried Lenz, die 1951 im Tagesspiegel erschien

Der Vater kam zurück; seine Ärmel waren aufgekrempelt, und seine schweißbedeckten, harten Arme glänzten unter der elektrischen Birne. Er war sehr ernst. Er preßte die Lippen fest aufeinander und wischte sich mit einem groben Taschentuch über die Stirn. Dann setzte er sich auf den Hocker, den er selbst gemacht hatte, und sah auf seine Stiefel. An den Sohlenrändern klebten Lehm und Stroh, und der Vater nahm einige Strohhalme, säuberte sie vom Lehm, betrachtete sie wie aus großer Entfernung und warf sie auf den Fußboden. Ich konnte nicht hören, daß er atmete. Er schien sich zugeschlossen zu haben, wie einer, der fürchtet, etwas könnte in ihn eindringen oder aus ihm herausbrechen. Er blickte nicht ein einziges Mal ins Licht. Wir fühlten, daß er in Frieden gelassen werden wollte, und keiner von uns sprach ein Wort. Die Uhr zählte und multiplizierte monoton vor sich hin. Der Vater bückte sich und löste vom Sohlenrand ein Lehmklümpchen. Er behielt das Klümpchen in der Hand. Er knetete es nicht, und er betrachtete es auch nicht.

Auf dem Tisch standen drei tiefe Teller; das Essen war fertig, und wir alle hatten Hunger, aber in diesem Augenblick hätte keiner von uns essen können. Ich wußte, daß es Kartoffeln geben sollte, Kohl, und viel Fleisch. Bei solchen Ereignissen hatte es bisher immer viel Fleisch gegeben. Der Vater hob seine Hand, drehte sie langsam, und dabei fiel das Lehmklümpchen auf den Boden. Er legte seine Hand auf die Tischkante, und ich sah das pralle Astwerk der Adern auf dem Handrücken.

Draußen war es sehr dunkel und sehr windig. Der Wind räumte den Hof auf und die Felder; er duckte das Unkraut am Graben und zerrte unverdrossen an allem, was lose war. Es gab viel, daran er zerren konnte. Die Katze schlich vom Herd weg, sie verschwand unter den Tisch. Dann entdeckte ich sie hinter den Stiefeln des Vaters. Mißtrauisch und voller Hoffnung beobachtete sie das Lehmklümpchen, das der Vater hatte fallen lassen. Schließlich wagte sie sich aus ihrer Deckung hervor und schlich ganz nahe an das Klümpchen heran. Sie beroch es, schob es mit ihrer Nase wenige Millimeter weiter und sah fragend, enttäuscht, zum Vater auf. Die Katze sah den Vater an, als erwarte sie eine Erklärung.

Der Vater bewegte sein langes, kantiges Kinn. Seine Augen waren fast geschlossen. Am rechten Unterarm zuckte ein Muskel. Er machte den Eindruck, als habe er in seinem Leben noch nie ein Wort gesprochen. – Dann stand er auf. Er stand plötzlich auf, und er war groß, und es schien nichts in der Stube zu sein außer ihm. Der Vater blickte uns nicht an, er streckte den Arm aus und ergriff die Klinke, und dann war er weg.

Wir hörten ihn über den Hof gehen, obwohl es draußen windig war. Seine Schritte dröhnten gewaltig zu uns herein. Wir hörten, wie er die Stalltür öffnete und wie der Wind die Stalltür gegen die Mauer warf und der Vater sie endlich schloß.

Nach einer Weile trat ich ans Fenster. Durch den Stall schaukelte eine Karbidlampe, und manchmal tauchte über der Karbidlampe das Gesicht des Vaters auf. Ich zweifelte nicht daran, daß sein Gesicht sehr ernst war, Der Hund kroch in den Verschlag. Seine Halskette rasselte und scheuerte sich am Holz. Der Hund war still.

Der Vater mußte die Karbidlampe an der Stallwand befestigt haben, denn sie bewegte sich nicht mehr. Er mußte sich auch hingesetzt haben, denn sein Gesicht erschien nicht mehr hinter dem Fenster. Ich schob die Blumentöpfe zur Seite und zog den Hocker vor das Fenster, damit ich es bequemer hätte und den Stall länger beobachten könnte. Im Stall war es gewiß ebenso warm wie hier in der Stube. Ich drehte mich um und hob das Lehmklümpchen wieder auf. Ich hielt es fest umschlossen und spürte, wie der Schweiß aus der Innenfläche meiner Hand brach. Die Karbidlampe blinkte schwach und traurig durch die Dunkelheit, ihr Schein zwängte sich durch sie und ich wunderte mich, wie das ohne ein Geräusch geschehen konnte.

Vor zwei Jahren hatte der Vater das Fenster gekittet, und ich bemerkte nun, daß der Kitt brüchig und altersschwach geworden war, und daß er sich mit dem Zeigefinger leicht herauslösen ließ. Ich nahm ein Stückchen Kitt und tat es zu dem Lehmklümpchen. Die beiden vertrugen sich aber nicht, und ich warf den Kitt auf die Erde und behielt das Lehmklümpchen in der Hand. Jetzt schaukelte die Karbidlampe einmal durch den Stall. Der Vater machte sie an einer anderen Stelle fest. Ich sah seine entblößten Arme sehr deutlich.

Wir warteten lange auf ihn. Plötzlich ging die Stalltür auf, und der Vater winkte mir, zu ihm herüberzukommen. Er ergriff meine Hand und zog mich in den Stall. Er deutete auf einen Strohhaufen, auf dem ein Pferd lag und uns zitternd aus großen, dunklen Augen entgegensah. Der Vater ging zu dem Pferd und streichelte es einmal flüchtig, und wie mir schien, verlor es etwas von seiner Angst.

Dann brachte er mich zu einem anderen Strohhaufen, auf dem ein Fohlen lag, hilflos und naß. Der Vater nahm eine Handvoll Stroh, drehte es zusammen und gab es mir. „Wisch das Tier ab“, sagte er.

Ich kniete mich hin und begann mit meiner Arbeit, und als ich den Vater einmal von der Seite beobachtete, glaubte ich, daß er lächelte.

Erstdruck: Der Tagesspiegel, Berlin, 11. November 1951, jetzt wieder nachzulesen in: Siegried Lenz, „Die Erzählungen“ (Hoffmann und Campe, Hamburg. 1536 S., 20 €)

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