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Kultur: Lichtspiel

Kent Nagano geht mit DSO und Rundfunkchor auf Gedankenreise

Ist es möglich, sich des Terroranschlags zu erinnern, ohne stets die Zwillingstürme vor dem geistigen Auge zu sehen? Kent Nagano wagt den Versuch in seinem Saisoneröffnungskonzert mit dem Deutschen Symphonie-Orchester (dessen zweiter Abend auf den Gedenktag fiel), indem er die Zuhörer an drei sehr unterschiedliche musikalische Orte geleitet. György Ligetis A cappella-Miniatur „Lux aeterna“ von 1966, gesungen von 16 Solisten des Berliner Rundfunkchores, lässt an Le Corbusiers Wallfahrtskirche im französischen Ronchamp denken: archaisch und erhaben zugleich, sparsam im Umgang mit Effekten. So wie kleinste Lichtveränderungen draußen den Altarraum verändern, schafft auch Ligeti mit seinen sanft aneinander reibenden Stimmen eine Atmosphäre von faszinierender Schlichtheit. Hinaus in die Nacht, aufs freie Feld führt Galina Ustwolskajas kammermusikalisches „Gebet“: Eine pathetisch aufgeladene Klanglandschaft evoziert das kurze Werk von 1987, in fahlem Graugelb schimmert der Horizont, wenn die Altistin Dagmar Peckova mit mahnendem Ton Bittworte rezitiert, unterbrochen vom Signalmotiv einer Totentrompete (Falk Maertens), den Detonationen des Gongs (Thomas Lutz) und des Klaviers (Sigurd Brauns).

Beide Stücke verknüpft Nagano mit der dritten Station des Abends auch optisch, indem er das DSO und den gesamten Chor von Anbeginn auf die Philharmonie-Bühne bittet und die Solisten so platziert, dass sie ihre Töne wie aus einem Gesamtklangkörper heraus entwickeln können. Leider gelingt es dem Dirigenten nicht, nach dem konzentrierten Beginn auch Beethovens neunte Sinfonie als Ort der inneren Einkehr zu definieren. Seine gehetzt-überhitzte Interpretation wirkt eher wie ein Gründerzeit-Prachtbau denn wie ein klassizistisches Gedankengebäude: Hier ist von allem zuviel da, Stilebenen geraten durcheinander, Proportionen verrutschen. Die Apotheose allerdings gelingt dann doch, dank der traumwandlerischen Sicherheit, mit der der Rundfunkchor den Zielort dieser Gedankenreise definiert: „Überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen.“ Frederik Hanssen

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