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Kultur: Liebe ist nichts für Anfänger

Man könnte auf der Stelle neidisch werden. Am liebsten möchte die Berlinale-Besucherin den Potsdamer Platz sofort gegen den dritten Wiener Bezirk eintauschen und statt ins CinemaxX ins Kino Bellaria gehen.

Man könnte auf der Stelle neidisch werden. Am liebsten möchte die Berlinale-Besucherin den Potsdamer Platz sofort gegen den dritten Wiener Bezirk eintauschen und statt ins CinemaxX ins Kino Bellaria gehen. Sie würde sich vorher fein machen, ihre Schuhe putzen und einen feschen Hut aufsetzen, wäre eine Stunde vor Vorstellungsbeginn im Foyer, könnte sich zu den anderen alten Damen setzen, zu den Herren hinüberwinken und sich vom Filmvorführer einen Teller mit selbstgebackenem Kuchen reichen lassen. Dann würde sie sich ein Lustspiel anschauen, mit Romy Schneider oder Theo Lingen, und die Welt wäre in Ordnung.

Berlinale 2002 Online Spezial: Internationale Filmfestspiele Tagesspiegel: Alle Berichte, Reportagen, Rezensionen Gewinnspiel: meinberlin.de verlost Filmbücher Fotostrecke: Stars und Sternchen auf der Berlinale Der deutsche Filmemacher Douglas Wolfsperger las einen Zeitungsartikel über das Bellaria, war ergriffen, fuhr nach Wien und drehte einen Dokumentarfilm. "Bellaria - So lange wir leben" porträtiert das alte Lichtspieltheater samt seinen Stammgästen: dem Studienrat und dem Archivar, der Uhrensammlerin, dem Mütterchen mit dem krummen Rücken, der aufgetakelten Sängerin und dem Varieté-Star, der einst mit Zarah Leander befreundet war. Die Filme, die sich die Alten jeden Nachmittag anschauen, sind mindestens 50 Jahre alt und ihre Zuschauer mindestens 70. Kinozeit ist angehaltene Zeit: die eigene Jugend auf immer und ewig. Das Fernsehen, sagt der pensionierte Lehrer, kastelt uns ein. Nur das Kino setzt einen ins Bild.

In einer der schönsten Szenen des Films erklärt die Uhrensammlerin, warum all die Standuhren und Wecker in ihrem Wohnzimmer nie gleichzeitig schlagen. Und dann hört man sie, eine nach der anderen, minutenlang läuten und klingeln, eine nach der anderen: ein wundersames Konzert der Anachronie. Wolfsperger beutet die Skurillität der Alten nicht aus. Er belustigt sich nicht, sondern er staunt, hört ihnen geduldig und aufmerksam zu.

Sie solle mehr tanzen, rät der Arzt einer der alten Damen. Und mehr küssen solle sie auch. Wird gemacht, sagt sie, und küsst ihren 91-jährigen Liebhaber vor dem Kino - mit einer Leidenschaft, wie sie auf der Leinwand selten zu sehen ist. Vielleicht ist das die wichtigste Erkenntnis des Alters: Dass die Liebe eine Angelegenheit von zu leidenschaftlichem Ernst ist, um sie den Anfängern zu überlassen.

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