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Kultur: Lieber Flügel als Prügel

Rhythm is it again: Das Jugendprojekt der Berliner Philharmoniker tanzt den „Feuervogel“ in der Arena Treptow

Und dann wird es ganz still in der mächtigen Halle der Arena in Treptow. Zweihundert Jugendliche stehen dicht an dicht neben der Bühne, die Arme eng am Körper, den Kopf aufgerichtet. Kein Kichern mehr, kein Flüstern – und auch kein Nägelkauen. Die Musik beginnt, die ersten Takte von Strawinskys „Feuervogel“. Von beiden Seiten rollen Gestalten auf das schwarz bespannte Podium, stellen sich auf alle viere, drehen sich um die eigene Achse und richten sich langsam auf. Der Tanz hat begonnen. Gleich wird der glitzernde Feuervogel die Bühne betreten. „Hold on!“, ruft plötzlich eine kräftige Frauenstimme. Die Körper sacken zusammen, die Probe wird unterbrochen, ein Scheinwerfer ist noch nicht in der richtigen Position.

Man kennt das, vor allem aus dem Kino: Seit „Rhythm is it“, der mitreißende Film über den langen Weg einer Laientanzgruppe von Problemkiezkindern zur Aufführung von Strawinskys „Le Sacre du printemps“, zum unerwartet populären Tanzwunder geriet, zum Plädoyer gegen die Mittelmäßigkeit, beflügelt der Geist des Jeder-kann-es-schaffen die Jugendarbeit der Berliner Philharmoniker. Die Erwartungen sind groß vor der heutigen Premiere. Trotzdem schaut ein neunjähriger Junge gelassen auf die Szenerie. Noch nicht mal Lampenfieber? Nicolai schüttelt den Kopf. Er geht in die 3b der Bruno-Bettelheim- Grundschule in Marzahn. Bis auf zwei Kinder nimmt seine ganze Klasse an dem Tanzprojekt teil. Und Nicolai hat sogar ein Solo bekommen. Ganz selbstverständlich zählt der schmächtige Junge all die Schritte auf, die er sich merken musste. „Viel schwerer ist das Fokus“, sagt er und grinst schüchtern.

Fokus – so werden die zwei Minuten Konzentration am Anfang jeder Probe genannt. „Ganz still stehen, das fällt den Kindern am schwersten“, sagt Nicolais Lehrerin. Die Mädchen tragen Stirnbänder, damit sie nicht ständig ihre Haare hinter die Ohren zuppeln. Und wer Kaugummi kaut, fliegt gleich von der Bühne. Die junge Lehrerin lacht. Sie trägt Jeans und Pferdeschwanz und wirkt resolut. Bei jeder Probe ist sie dabei, hilft beim Anziehen der Kostüme oder besorgt den Schülern etwas zu trinken. „Sie passt auf uns auf“, erklärt Nicolai ernst.

Von Anfang an war Frau Schabonatis dafür, dass ihre Klasse an dem Projekt teilnimmt. Also hat die Lehrerin bei den Eltern um Unterstützung geworben. Acht Schüler ihrer Klasse stammen aus Aussiedlerfamilien. Auch Nicolai ist in Russland geboren, seine Familie lebt seit sechs Jahren in Deutschland. „Man kann spüren, wie die Kinder mit jeder Woche selbstsicherer werden und ein Gefühl für ihren Körper bekommen“, sagt Frau Schabonatis. „Aber natürlich sind sie mittlerweile auch erschöpft.“ Vor zwei Monaten gingen die Proben in der Turnhalle los, und seit einer Woche fährt die Klasse jeden Nachmittag nach Treptow in die Arena. „Tanzen ist einfach anstrengender als Hausaufgaben“, sagt sie knapp.

Bei der ersten gemeinsamen Probe aller 200 Schüler am vergangenen Mittwoch hat jede Klasse den eigens einstudierten Tanz vorgeführt. Als Letztes waren die Feuervogelküken an der Reihe. „Es gab tosenden Beifall“, erzählt die Lehrerin, „aber die Kleinen waren so erschrocken, dass sie sich die Ohren zugehalten haben.“ „Ich nicht“, sagt Nicolai.

Zum ersten Mal nehmen in diesem Jahr auch ältere Menschen an der Aufführung teil. 24 Senioren sind es, die als Weise die 24 kleinen Feuervögel beschützen sollen. „Um sich kennen zu lernen, sollte jeder den anderen nach dessen Lieblingsfarbe, Lieblingsgericht und einem Geheimnis fragen“, erklärt Tara Herbert, eine der beiden Choreografinnen. Nicolais Tanzpartnerin ist Karin Bartsch. Der Drittklässler hat sich alles genau gemerkt: Ihre Lieblingsfarbe ist weiß, ihr Leibgericht was mit Tieren aus dem Meer, und ihr Geheimnis verrät er natürlich nicht.

Die Rentnerin aus Frohnau ist 65 und man sieht ihr an, dass sie ihr Leben lang Sport gemacht hat. „Am liebsten Schautanz“, darauf besteht sie. Erst in der Funkengarde, dann in einer Rumba-Formation. Vom „Feuervogel“ hat sie in ihrem Sportverein gehört und sich ohne zu zögern gemeldet. Wenn es nach ihr ginge, könnte die Choreografie der Senioren ruhig noch etwas anspruchsvoller sein. „Aber natürlich ist sie zugeschnitten auf ihre Rolle als Weise“, sagt sie. „Und einige haben ja jetzt schon Schwierigkeiten, sich alles zu merken.“

Da springen dann auch mal die Schulkinder ein und flüstern „ihren“ Omas oder Opas zu, was als Nächstes kommt. Karin Bartsch war sofort angetan von der Offenheit der Kinder. In Marzahn, dem sozialen Brennpunkt, ist sie, außer im Chinesischen Garten, noch nie gewesen. Mit den älteren Schülern ist der Kontakt schwieriger, meint die Rentnerin. „Aber die Kleinen dürfen mich ruhig Oma nennen, auch wenn ich gar keine Enkel habe – und auch keine weißen Haare.“

In der Arena wird das erstmals mit Kostümen geprobt. Die Weisen tragen hellgraue Mönchskutten, die kleinen Feuervögel orangefarbene Seidengewänder. Am linken Arm hat jeder einen Flügel mit lauter Glitzerbändern, die beim Laufen flattern. „Mit seinen kurz geschorenen Haaren und dem orangeroten Kostüm sieht Nico aus wie ein kleiner buddhistischer Mönch“, findet Karin Bartsch. Sie erzählt, wie er bei einer Probe ganz erbost zu ihr gekommen sei, weil jemand ihn niedlich fand. „Er ist eben der Zarteste von allen“, sagt sie. „Aber seit er sein Solo getanzt hat, nehmen ihn alle ernst.“

Wenn Nicolai seinen Einsatz beschreibt, verliert er jede Schüchternheit. Präzise schildert er, wie er sich alleine aufrichtet, über die ganze Bühne rennt und dabei alle Küken antippt, die sich daraufhin in kleine Feuervögel verwandeln. Nicolai mag die Musik von Strawinsky. Weiter tanzen will er aber erst mal nicht. Zu anstrengend. Dafür weiß er schon, was er einmal werden möchte: Panzerfahrer. „Wissen das denn deine Eltern?“, fragt ihn Frau Schabonatis etwas erschrocken. Nicolai nickt unaufgeregt, aber bestimmt. „Und wie finden die das?“, fragt sie. „Schlecht.“

Die Lehrerin nickt, ihre Augen betrachten den Jungen aufmerksam und freundlich. Sie hat sich schon wieder gefasst. Beim Hinausgehen sagt sie mit einem Augenzwinkern: „Das Projekt macht den Kindern viel Spaß, aber deswegen müssen sie ja noch nicht gleich alle Tänzer werden, oder?“ Nicolai wirft seinen schwarzen Rucksack über die Schulter, hängt sich den Schlüssel um den Hals und setzt sich ein gelbes Baseball-Käppi auf. Am Abend der Aufführung werden 3000 Leuten sehen, wie er die Kräfte zur Befreiung des Feuervogels zum Leben erweckt.

„Feuervogel“, heute und morgen in der Arena Treptow (ausverkauft)

Stephanie Müller-Frank

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