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Liedermacher in Kevelaer: Extrem Liedermaching

Früher sangen sie für eine bessere Welt, heute für ein besseres Ich – wer nach Wecker & Wader auf die Bühne drängt: Ein Besuch auf dem Liedermachertreffen in Kevelaer.

Seit Stunden schon sitzt Götz Widmann da auf der selbstgebastelten Bühne. Neben Bierbänken, zwei Mikrofonen, dem alten Sofa, drei Scheinwerfern und unter einem Dach aus Wolldecken. Er sitzt auf seinem blauen Sessel wie auf einem Thron, denn er ist hier der Chef. Ein unaufmerksamer. Nur selten schaut er auf das, was neben ihm vorgeführt wird. Mal spielt er eine Partie Schach mit jemandem, der sich zu ihm setzt, mal nippt er am Rotwein. Mal unterhält er sich.

Es ist darüber längst dunkel geworden am Himmel über dem Bauernhof in Kevelaer an der niederländischen Grenze, aber nicht nur deshalb ist aus den Blicken der meisten Menschen vor und auf der Bühne jegliche Hellsichtigkeit gewichen.

Widmann, Jahrgang 1965, ist müde. Sein kragenloses Hemd spannt über dem Bauch, die schwarzen Haare werden grau. Immer wieder blickt er von seinem Sessel ins Publikum, sucht die Blicke seiner Frau, lächelt sie an. Ein junger Musiker aus Bremen drischt auf die Gitarre ein. Blut tropft von den Saiten. Er schaut auf seine Finger, sagt „Scheiße“ und spielt weiter. Widmann wird später sagen, dass ihn das beeindruckt habe. Der Einsatz und die Leidensbereitschaft.

Da hält der Musiker, der um kurz vor ein Uhr nachts auftritt, nicht mit. Er hat blonde Dreadlocks und trägt ein Akkordeon. Auf seinem T-Shirt steht „Anarchie statt Deutschland“. Den Kampf gegen den Alkohol hat er vor Stunden verloren. Die Augen geschlossen greift er in die Tasten. Er lallt. Das Mikrofon fällt um, und dann fällt auch der Musiker. Die Zuschauer halten kurz inne, bevor sie weiterquatschen, neues Bier holen. Widmann lacht. Etwas ungläubig vielleicht, aber ganz sicher nicht fassungslos.

Er weiß ja, was passiert, wenn das Liedermachertreffen in Kevelaer am Rand von Deutschland stattfindet. Er selbst hat es sich ausgedacht. Vor 16 Jahren schon. Widmann hat damit ein kleines Reich geschaffen. Gut 150 Leute passen rein, die reisen Jahr um Jahr von überallher an, alles Liedermacher, so wie er.

Götz Widmann ist seit 20 Jahren mit der Gitarre unterwegs. Außerdem hat er ein Plattenlabel für Liedermacher gegründet. Was ihm gefällt, bringt er heraus, einfach, um die Platte zu haben. Und so dient dieses jährliche Treffen nicht nur dazu, ein Genre fortzuführen, dessen Ursprünge im Mittelalter bei Walther von der Vogelweide und seiner Leier liegen, es ist auch ein Vorspielen vor Götz Widmann. Er ist für die junge Liedermacherszene ein König, ein Guru, eine Kultfigur. Jenseits davon kennt ihn aber kaum einer.

Das war bei seinen Vorgängern anders. Liedermacher galten mal was. Man konnte als Liedermacher ein Star sein.

Was heute Widmanns Liedermachertreffen in Kevelaer ist, war früher das Burg-Waldeck-Festival im Hunsrück. Dort starteten zwischen 1964 und 1969 die Karrieren von Reinhard Mey und Hannes Wader. Das Festival war der Anfang der neuen deutschen Liedermacherei. Politisch musste sie sein, das war wichtig. Neben Wader und Mey gehörten Wolf Biermann, Franz Josef Degenhardt, später auch Konstantin Wecker zu den bekanntesten.

Degenhardt starb im vergangenen November und wenige Tage darauf zwei weitere große Vertreter der deutschen Liedkunst: Georg Kreisler und Ludwig Hirsch. Die einen also tot, die anderen – Wader, Wecker, Mey – im Rentenalter. „Liedermacher sterben aus“, schrieb die „Süddeutsche Zeitung“. Das war’s wohl, da kommt nichts mehr nach.

Davon will Konstantin Wecker nichts hören. Er krächzt ins Telefon, seine Stimmbänder sind gereizt. Wader und Widmann kennen sich, sie mögen sich. „Natürlich kommt da was nach“, sagt Wecker. „Ich schätze Götz Widmann sehr.“

Früher hat Widmann viel über Drogenkonsum, Alkohol und Kiffen geschrieben

Wecker ist im Sommer 65 Jahre alt geworden, und er ist gerade auf Tournee. Deren Auftakt hat er nur mit Kortison durchgestanden, einige kommende Konzerte wird er absagen müssen. 2011 hat er auf einem Tribute-Konzert für den verstorbenen Franz Josef Degenhardt gespielt. „Für meinen Freund Franz“, wie er sagt. Während Wecker seinen Song „Empört Euch“ gesungen hat, saß Widmann daneben auf einer Box. Er hat später ein Lied von Degenhardt gespielt. „Deutscher Sonntag“, ein Lied über kleingeistige, langweilige Wohlstandssattheit und Degenhardts Leiden daran.

Ein Mann, ein Instrument, eine Geschichte. Das Setting hat sich in den vergangenen 40 Jahren nicht verändert. Wohl aber die Geschichten. Die sind nicht mehr so dogmatisch, bewegen sich jenseits des Ideologiegescheppers der 70er Jahre. Wader und Co. sangen von Widerstand, von Solidarität, davon, die Welt zu verändern, aufmerksam zu machen, den Finger in die Wunde zu legen. Die neue Generation hat sich davon distanziert. Ihre Themen sind Arbeitsverweigerung, Exzess, Geldsorgen, Liebeskummer, die eigene Männlichkeit. Oder wie Widmann formuliert: „Die in den 70ern haben mit dem erhobenen Zeigefinger gespielt, wir spielen mit dem erhobenen Mittelfinger.“

Vor der Bühne in Kevelaer streunen Hunde umher, fast jeder scheint einen mitgebracht zu haben. Ein junger Mann – grüner Irokesenschnitt, Nasenring, zerfleddertes Hemd – sitzt vor der Bühne auf einem Bierkasten wie auf einem Schatz. Er hält zwei Flaschen Bier in den Händen, in jeder eine. Stereotrinken. Auf der Bühne spielen zwei Punks auf einem selbstgezimmerten Dosen-Schlagzeug. Rechts neben der Bühne brennt ein Lagerfeuer. Männer mit langen Haaren teilen sich Zigaretten.

In seinen frühen Texten hat Widmann viel über Drogenkonsum, Alkohol und Kiffen geschrieben. Er hat davon gesungen, lieber lange zu schlafen, als sich von einem Chef anbrüllen zu lassen oder Revolution zu machen. Oder es geht um Freiheit. Die Freiheit, sich über alles lustig zu machen. Über Religion, Politik, Vegetarier, Liedermacher, Frauen, Männer, Kinder. „Beim Götz hat jeder Song eine ironische Distanz“, sagt Wecker über Widmann. Wenn sich jemand von seinen Songs angegriffen fühle, mangele es demjenigen an Humor, sagt Widmann. Er hat einen modernen Soundtrack geschrieben für die Politikverdrossenen, die Lebemänner, die Nichtsnutze dieser Welt.

Dass Liedermacher weiter angestaubt und alt klingt, liegt daran, dass die wahrnehmbaren Akteure sich seit Jahrzehnten nicht ändern. Konstantin Wecker ist jetzt also wieder solo unterwegs, davor hat er zusammen mit Hannes Wader, 70, die Konzertsäle gefüllt.

Gemeinsam haben sie „Bella Ciao“ gespielt, ein Partisanenlied aus Italien. „In guter antifaschistischer Tradition“, sagt Wader. Dargeboten mit steinerner Miene. Ernsthaft, wichtig, wahrhaft. Neue Themen in ihren Liedern sind die Finanzkrise und Atomkatastrophen. „Mittlerweile ziele ich auf die ganz Jungen ab“, sagt Wecker. Die würden sich wieder engagieren. Auf einem Konzert der beiden alten Barden scheint eine ganze Generation nicht eingeladen zu sein. Die, zu der Widmann gehört. Und so sieht man bei den Wecker-Wader-Konzerten vor allem Wohlstandsbäuche und Blumenkohlfrisuren. Die meisten Fans sind mit den Sängern gealtert. Deren letztes gemeinsames Album aus dem Jahr 2010 heißt „Kein Ende in Sicht“. Für den Musikernachwuchs kann das wie eine Drohung klingen. Denn so lange die alte Garde die Bühnen besetzt, ist sie es, die den Begriff „Liedermacher“ prägt.

Mani Terzok, Jahrgang 1948, ist der Älteste der jungen Szene. Er hat schon Hannes Wader und Degenhardt live gesehen, damals im Berlin der 70er Jahre. Sie gefielen ihm nicht. „Zu links, zu viel Arbeiterromantik, zu wenig übers Kiffen, zu wenig Spaß.“ Erst durch Widmann hat Terzok selbst angefangen, Musik zu machen. Vorher war er Hippie, Junkie, Seefahrer, auf Entzug in Bangkok, im thailändischen Gefängnis, nochmal Junkie, nochmal Entzug. Er hat ein Buch darüber geschrieben. Heute ist er Imker. Wenn er sich nicht um seine Bienen kümmert, singt er Lieder über Bussarde und Ufos. Auch bei Bärbel Schäfers TV-Sendung war er schon, spielte Akkordeon und sang von Außerirdischen.

Er ist ein Ein-Mann-Unternehmen, unterstützt von seiner Frau

Widmann, der heute für so viele der neuen Szene Vorbild ist, musste lange um Aufmerksamkeit kämpfen. Ihm hat das Ernsthafte, das Belehrende der alten Liedermacher eher geschadet. Er wollte das anders machen, als er mit seinem Freund Martin „Kleinti“ Simon das Duo Joint Venture gründete. Sie wollten die Leute unterhalten. Aber an die überhaupt erstmal heranzukommen, war zu Beginn nicht einfach. „Wenn du bei einem Veranstalter ‚Liedermacher' gesagt hast, hat der direkt aufgelegt“, sagt Widmann. Deshalb ist er mit dem Begriff bis heute nicht ganz warm geworden.

Joint Venture nannten sich Dichter und Sänger, später eine Kombination aus beidem: Dinger. Das war auch der Titel ihres ersten Albums. Ein späteres hieß Extremliedermaching. Bei einem der ersten Konzerte spielten Joint Venture in Nürnberg in einem autonomen Zentrum, Widmann: „dem Schandfleck der Stadt, genau das Richtige für uns“. Anzahl der zahlenden Gäste: zwei.

Das war Anfang der 90er Jahre. 20 Jahre davor waren Liedermacher dagegen groß im Geschäft gewesen. Konstantin Wecker hat in der Münchner Heimat schnell Erfolge gefeiert. Mit seinem Album „Genug ist nicht genug“ gelang ihm 1977 der Durchbruch, doch damit war auch nicht alles gut. Von den Linken wurde Wecker angefeindet. Er galt als Hedonist, mit seinem Pontiac Firebird, seiner Villa in München-Grünwald. Bis auf die Bühne hätten sie ihn verfolgt, sagt er heute. Als Joint Venture gerade starteten, verfiel Wecker schon dem Kokain, und Liedermacher wollte eigentlich auch niemand mehr hören. Wecker macht die politischen Großströmungen jener Zeit dafür verantwortlich: den aufkommenden Neoliberalismus, der jedes Engagement ins Lächerliche zog und jeden Protest als Gutmenschentum abtat.

Vielleicht war der Markt auch übersättigt. Eine Zeitlang habe „jeder, der lange Haare hatte und drei Akkorde auf der Gitarre klimpern konnte“, einen Vertrag bekommen, sagt Götz Widmann. Er hat einen Song darüber geschrieben, in dessen Refrain heißt es: „Wahrscheinlich hat er Hasch geraucht, jetzt denkt er, dass die Welt ihn braucht. Keinem wird’s was bringen, er muss uns jetzt was singen.“

Einen Dünkel hat er daraus nicht abgeleitet, kaum einen Anspruch. Der Moderator des Liedermacherabends in Kevelaer sagt irgendwann zwischendurch, das Problem der Veranstalter sei, dass sie so scheißtolerant seien, dass einfach jeder mitmachen dürfe.

Götz Widmann hatte sich alles einfacher vorgestellt, als er in den 90ern angefangen hat. „Haschisch rauchen macht harmlos“ war der erste Song von Joint Venture. „Ich dachte, wir hätten einen Hit geschrieben“, sagt Widmann. Er hatte sich getäuscht. Sieben Jahre sollte es dauern, bis Joint Venture von ihrer Musik leben konnten. Als die ersten Plattenfirmen mit Verträgen winkten, der Schicksalsschlag: Martin „Kleinti“ Simon starb. Völlig unerwartet. Mit 33 Jahren an Herzversagen. Nach dem Schock hat Widmann weiter gemacht. Sein erstes Solo-Live-Album heißt „Drogen“. Einen Plattenvertrag hat er nicht. Er ist ein Ein-Mann-Unternehmen, unterstützt von seiner Frau. Management, Booking, Vertrieb, alles in einer Hand. 80 bis 90 Konzerte spielt Widmann im Jahr, 70 000 Kilometer fährt er, im Gepäck seine Gitarre.

Irgendwann ist er auch mal auf dem Bauernhof in Kevelaer aufgetreten, das war noch zu Joint-Venture-Zeiten. Daher noch stammt die Idee mit dem Liedermachertreffen. Es wurde inzwischen zur Startrampe für eine der bekannteren Bands der neuen Liedermachergeneration: Monsters of Liedermaching. „Ohne Joint Venture, ohne Kevelaer gäbe es uns nicht“, sagt einer von ihnen.

Simon & Jan, ein Duo aus Oldenburg, sind an dem Wochenende ebenfalls auf dem Bauernhof. Widmann hat sie ein paar Jahre zuvor an gleicher Stelle gesehen und mit auf Tour genommen. Seit zwei Jahren sind Simon & Jan hauptberuflich Musiker. Darauf hoffen viele der rund 150 Angereisten. Dass sie einmal davon leben können, vom Liedermachen.

Widmann hat ein Genre revolutioniert

Eine Band, die das vielleicht schaffen kann, ist Billy Rückwärts, eine Dreier- Combo aus Köln. In den nächsten Wochen nimmt Widmann eine Platte mit ihnen auf. Kennengelernt hat er auch sie in Kevelaer, und später hat er sie in sein Tournee-Vorprogramm aufgenommen. Von dem Geld haben sich Billy Rückwärts, drei Musiker zwischen 28 und 30 Jahren, einen gebrauchten Van gekauft. Seit April sind ihre WG-Zimmer untervermietet, sie quasi obdachlos. Seitdem sind sie auf Tour. Daniela Dieterich spielt Geige bei Billy Rückwärts. Sie ist eine der wenigen Frauen in der Szene. „Ich mag die ironische Brechung“, sagt sie. Die Jungs würden Lieder über unerwiderte Liebe, über Probleme mit dem anderen Geschlecht singen. Und dabei von einer Frau an der Geige begleitet werden. Das Bild gefällt ihr.

Auch Billy Rückwärts arbeiten sich in ihren Songs an Widmanns Werk ab. Es sind Lieder über Geldsorgen, den Durst nach Leben und nach Faulheit. Doch wenn in den Texten auch viel Albernheit steckt, ihre Karriere verfolgen die drei Musiker mit großem Ernst. Wenn sie einen Auftritt haben, etwa an einem Samstag in Kassel, reisen sie schon am Montag an. Sie schlafen zu dritt in einem Zimmer, bei Bekannten, Verwandten, Liedermacherkollegen, und touren von Montag bis Samstag durch die Kneipen. Da spielen sei dann ein, zwei Songs, um Werbung für ihren Auftritt zu machen. Nicht selten lassen sie einen Hut rumgehen. In ihrem Song „Geld“ singen sie: „Wenn du glaubst, dass du ein richtig billiges Stück wärst, dann schau dir den Hut an von Billy Rückwärts.“

In Kevelaer hat die Musik die Nacht überdauert. Auf der Bühne schlafen einige ihren Rausch aus, neben ihnen ein Meer aus Bierflaschen. Irgendwo klimpert eine Gitarre. Am Abend werden sie weitermachen. Hippies werden von Ufos singen, Punks von Dosenbier. Götz Widmann wird dann nicht mehr da sein, er reist an diesem Tag schon früh ab. Er steht an seinem Bulli und schaut über den Bauernhof, die Zelte, das Feuerwehrauto. Er schaut auf sein Reich, die Hippies und Punks, die Alten und Jungen. Ohne ihn würde es all das nicht geben. Er hat ein Genre revolutioniert, statt übers Revolutionieren zu singen.

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