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Klassiker. Primal-Scream-Sänger Bobby Gillespie.

© dpa

Berlin Festival: Liegt die Zukunft in der Vergangenheit?

Retromania: Primal Scream spielen auf dem Berlin Festival ihr Album „Screamadelica“ komplett nach und reihen sich damit in einen immer populärer werdenden Trend ein

Von Jörg Wunder

Das verschwenderische Lineup des Berlin Festivals verspricht jede Menge zeitgenössischer Musik – und zumindest in einem Fall auch gut abgehangene Klänge: Die schottische Band Primal Scream wird ihr 1991 veröffentlichtes Album „Screamadelica“ vollständig – ja was? - aufführen, nachspielen, interpretieren? Die Band um Sänger Bobby Gillespie schließt sich damit einem Trend an, der seit Jahren immer weitere Kreise zieht: Bands oder Künstler spielen wichtige Alben ihrer Karriere komplett nach, und zwar werkgetreu, mit allen Songs in der originalen Reihenfolge.

Meist handelt es sich dabei um Meilensteine der jeweiligen Laufbahn: So lärmten etwa die New Yorker Noiserocker Sonic Youth nie gewaltiger als auf „Daydream Nation“. Galt das Doppelalbum schon bei seinem Erscheinen 1988 als wichtig, wurde es in der Retrospektive zu einer der wegweisenden Platten der Achtziger erklärt – und von der Band zum 20-jährigen Jubiläum als einstündiger Eröffnungsblock „vollständiger“ Konzerte gespielt. Eine Nummer kleiner machten es die britischen Schrammelkönige The Wedding Present mit ihrer Neuauflage zum 20. Geburtstag von „George Best“. Auch dies unbestritten der Höhepunkt einer unter dem Mainstream-Radar verlaufenen Karriere. Gleich drei Alben packten 2002 The Cure für die Zweieinhalbstunden-Marathonkonzerte ihrer „Trilogy“-Tournee zusammen, und zwar eingespielt unter Verwendung des gleichen Instrumentariums wie bei den Originalaufnahmen. Ein Konzept, das sie unlängst mit anderen Platten wiederholt haben.

Manchmal werden auch explizit unpopuläre Alben wieder ans Licht geholt. So hat sich Lou Reed mit wechselnden Kollaborateuren mit seinem berüchtigten Flop-Album „Metal Machine Music“ auseinandergesetzt – ein aus anstrengenden Feedback-Orgien bestehendes Werk, das seit seinem Erscheinen 1975 entweder als schlechteste Platte aller Zeiten oder visionäre Lärmsymphonie eingestuft wird.

Dass die Wahl bei Primal Scream auf „Screamadelica“ fiel, ist nicht verwunderlich: Das dritte Album einer sich stilistisch permanent häutenden Band ist nach gängiger Lesart ihr bestes und einflussreichstes. Abgemischt von Produzentenlegende Jimmy Miller, der 20 Jahre zuvor den Rolling Stones ihren dekadenten Seventies-Sound maßgeschneidert hatte, kondensierten die elf Songs den drogeninduzierten Rave-Wahnsinn der frühen Neunziger zu einem halluzinogenen Meisterwerk. Hypnotischere Rock-Grooves als das zehnminütige „Come Together“ oder „Loaded“ wird man schwerlich finden.

Was aber bewegt die Akteure zu dieser historisierenden Konzertpraxis? Liegt ihr die resignative Einsicht zugrunde, den künstlerischen Zenith überschritten zu haben und das lange zurückliegende Meisterwerk nochmals abfeiern lassen zu wollen? Dagegen spricht, dass alle Beteiligten munter weiter Platten veröffentlichen, was zumindest dem Anspruch nach mit dem Versuch verbunden ist, das bislang Erreichte in den Schatten zu stellen.

Geld spielt sicherlich eine Rolle bei der gegenwärtigen „Retromania“ (Simon Reynolds), denn auf die alten Fans können sich die Bands immer noch verlassen wie man an den guten Verkaufszahlen von Album-Wiederauflagen sieht. Die angegrauten Rock-Liebhabersind heute finanzkräfiger als in ihren Teenagerjahren. Ein Konzert, das den Sound ihrer Jugend rekonstruiert, ist ein verlockendes Angebot.

Vielleicht steckt hinter den Aufführungen ausgewählter Schlüsselalben ja der Wunsch der Popmusik, endlich mit den Maßstäben der Klassik gemessen zu werden. Klassische Konzerte sind im Grunde stets neue Interpretationsversuche eines mehr oder weniger festgelegten, sich nur langsam erweiternden Kanons. Der entscheidende Unterschied zur U-Musik liegt allerdings darin, dass es für die Werke der Klassik in den meisten Fällen keine künstlerisch definitiven Einspielungen gibt – eben weil sie entstanden sind, bevor es adäquate Aufzeichnungsmöglichkeiten gab.

Dagegen bestehen die entscheidenden Momente der Popmusik seit jeher aus dem idealen Zusammentreffen von Komposition und Interpretation. So ist die historische Aufführungspraxis vielleicht nur ein Zwischenschritt. Die nächste logische Entwicklungsstufe müsste eigentlich in der Aufführung ganzer Werkzyklen durch Fremdinterpreten liegen. Radiohead spielen „Abbey Road“, die Red Hot Chili Peppers kalifornisieren „Electric Ladyland“... Die Zukunft liegt in der Vergangenheit? Das könnte wirklich spannend werden.

Das Berlin Festival findet statt auf dem Flughafen Tempelhof & Club X-Berg, Freitag ab 14 Uhr, Samstag ab 13.30 Uhr, Tages-Ticket:48,40 Euro, Club X-Berg-Tages-Ticket: 26,40 Euro, mehr Informationen unter www.berlinfestival.de.

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