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Literarische Stadtwanderung: Durch Charlottenburg in leichter Westalgie

Vom Theodor-Heuss-Platz zum Europacenter: David Wagner macht einen literarischen Spaziergang durch Charlottenburg - und spürt einen Hauch von Westalgie.

Wir sind an der Ewigen Flamme auf dem Theodor-Heuss-Platz verabredet, dem Platz, der anfangs Reichskanzler-, dann Adolf-Hitler-Platz hieß. Namen hat er schon einige gehabt, dabei ist er gar nicht so alt. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es nur einen unbebauten Schmuckplatz über einem neuen U-Bahnhof, Neu-Westend kam später. Viel später, erst 1970 kam das Fernsehzentrum des SFB, und immer wenn ich es sehe, frage ich mich, ob der Schreibtisch der Intendantin dort ganz oben in dem kanzelartigen Dachaufbau steht. Mit seinen achtzehn Stockwerken ragt das Gebäude über die Stadt, ist allerdings nicht ganz so schön wie das Haus des Rundfunks, das vierzig Jahre zuvor an die Masurenallee gebaut wurde.

Heute leuchtet das verunglückte Kleinbuchstaben-Logo des RBB von der Fassade des Fernsehzentrums, es leuchtet auch auf die gut besuchte Toilettenanlage in den Grünanlagen und auf den steinernen Block, aus dem die Ewige Flamme lodert. Ich lese die Inschrift und wundere mich, dass die Mahnung nicht den Weltkriegstoten, sondern den Vertriebenen gilt.

R. kommt mit Hut aus der U-Bahn, das heißt wohl, es wird bald wieder Winter. Wir spazieren den Kaiserdamm hinunter, in die Stadt hinein, folgen dem sanften Gefälle ins Urstromtal. Bis vor hundert Jahren gab es hier nur einen unbefestigten Sandweg, Kaiser Wilhelm II. wünschte sich eine Verlängerung der Bismarckstraße und bekam seinen fünfzig Meter breiten Damm. R. weiß, dass diese Straße für nicht einmal ein Jahr, von April 1967 bis Januar 1968, Adenauerdamm hieß, dann aber, erfolgreicher Bürgerprotest, in Kaiserdamm zurückbenannt wurde. Nach Adenauer, in Berlin nie sonderlich beliebt, wurde erst 1973 eine Ku’dammkreuzung und der darunter neu errichtete U-Bahnhof benannt.

R. weiß auch, dass das Apartmenthaus an der Ecke Königin-Elisabeth-Straße – es sieht aus wie letztes Jahr entworfen und gestern gebaut – dort schon seit 1929 steht. Hans Scharoun war daran beteiligt, zehn Jahre bevor Albert Speer den Kaiserdamm zu einem Abschnitt der Ost-West-Achse machte und mit seinen Protzleuchtern (sie werden gern Kandelaber genannt) schmückte. Wir wundern uns über einen Wannenbalkon an einem Altneubau, der ein Stück weiter fast auf Straßenniveau liegt und gar nicht zur Germaniamöblierung passt.

Wir könnten über die Brüstung klettern und uns auf seinen Plastiksesseln niederlassen. Fast am Sophie-Charlotte-Platz versetzt ein wuchtiger Bau mit gewaltigem Rustikageschoss uns nach Florenz. Es ist das ehemalige Polizeipräsidium von Charlottenburg. Hinter der Kreuzung mit der Wilmersdorfer Straße steht ein reines Beispiel nationalsozialistischer Baukunst an der Bismarckstraße, heute befindet sich das Finanzamt Charlottenburg in dem Gebäude. Der Adler im Portikus sitzt auf einem runden Emaille-Schild mit der Hausnummer 48, und wir fragen uns natürlich, ob das Hakenkreuz darunter abgeschlagen wurde oder nur verdeckt ist. Die schöne Fassade der Deutschen Oper ein paar Schritte weiter, Fritz Bornemanns Meisterwerk der sechziger Jahre, ist mit einem Goldpaillettennetz verhängt. Gilt das der kommenden Weihnachtszeit? Die Kiesel im Waschbeton sind, schade, nicht zu sehen.

Lesen Sie auf Seite 2, bei welcher Sehenswürdigkeit des Westens der Autor in leichte Westalgie-Stimmung kommt.

Wir sprechen nicht über Benno Ohnesorg, der hier in der Krummen Straße verblutete, nein, heute nicht, sondern überqueren die Straße und den unscheinbaren Shakespeare-Platz, über den wir lachen müssen, weil die Shakespeare-Bronze so sehr fremdelt zwischen den hohen Apartmenthäusern, die weit über die Traufhöhe und aus der Fluchtlinie der Achse ragen. Wir biegen in die Pestalozzistraße und bleiben vor jedem Antiquariat stehen, auch das mit der Dante-Büste gibt es noch, seit Jahren schon schaut sie dort aus dem Fenster. Einige Läden sind neu, andere verschwunden.

Wir setzen uns ins Café Savigny, an den Tischen um uns herum nur Menschen, die in Zeitschriften blättern oder telefonieren. Nach einem Bier stehen wir auf und gehen wieder, am Restaurant Florian und am Zwiebelfisch vorbei, ab und an ist auf den Bürgersteigen nun Russisch zu hören, wir gehen über die Kantstraße, an allen Schaufenstern des Bücherbogens vorbei, unter der S-Bahn hindurch, durch die Knesebeckstraße bis zum Ku’damm, dann links Richtung Wittenbergplatz. Wir zeigen einander all die Häuser, in denen bis vor ein paar Jahren Kinos waren. R. will noch einen Kaffee trinken, also setzen wir uns, ich erinnere mich überhaupt nicht, je dort gewesen zu sein, ins Mövenpick im Europa-Center. Um uns glückliche Rentner und ein paar Touristen.

Von dem Tisch im ersten Stock haben wir einen schönen Blick auf den vorweihnachtlich budenverbauten Breitscheidplatz, der Wasserklops von Joachim Schmettau (eigentlich heißt das Ding ja Erdkugelbrunnen) versteckt sich unter einer weißen Plane. So verpackt sieht er aus wie eine der Kuppeln der Radarstation auf dem Teufelsberg. Werden von dort unten vielleicht alle Gespräche der Stadt abgehört? Was hätten die Horcher heute erlauscht?

Mir fällt ein, sanft plätschert der Lotusbrunnen, dass ich mit meiner Mutter im Europa-Center war, 1982 muss das gewesen sein. Elf Jahre alt, habe ich über die Wasseruhr gestaunt, war überhaupt tief beeindruckt und habe gedacht, das Europa-Center wäre ein Hochhaus. Was heute wie ein Shopping-Mall-Museum wirkt, war damals das Wahrzeichen der Stadt – zumindest ihrer westlichen Hälfte.

Der Kalte Krieg ist vorbei, die Mauer ist gefallen und wir sitzen hier ganz entspannt in leichter Westalgie. Wir können das Gebäude nun sentimentalisieren und müssen uns nach keinem verpassten Vorkriegsberlin mehr sehnen – hier, ungefähr da, wo wir sitzen, soll ja mal das große, viel gerühmte Romanische Café gewesen sein. Stattdessen könnten wir nun dem Vorwende-Berlin, der glücklichen, versunkenen Insel West-Berlin hinterhertrauern, meint R.

Tun wir aber nicht.

Der Autor, geboren 1971, lebt in Berlin. Eine Sammlung seiner literarischen Stadtwanderungen, „Welche Farbe hat Berlin?“, aus der dieser Text stammt, erscheint am 29. September im Verbrecher Verlag (192 Seiten, 14 €).

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