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Literatur: Das Helle und das Dunkle

Sarah Manguso erinnert sich in ihrem Roman "Zwei Arten von Verfall" an eine lebensgefährliche Erkrankung.

Von Gregor Dotzauer

Das Ungeheuer hat viele Namen und keine feste Gestalt. Neun Jahre lang malträtiert es Sarah Manguso und zeigt ihr jedes Mal eine andere Fratze. Es lähmt ihr die Beine, verseucht ihr das Blut, fällt als Depression über sie her, schwemmt sie auf, fährt ihr als Katheter in die Brust und macht sie von Steroiden abhängig. Die Gravur ihres Notfallarmbands fasst das medizinische Schicksal der 1974 in der Nähe von Boston geborenen und heute in Los Angeles lebenden Dichterin im Begriff einer „chronisch idiopathischen demyelierenden Polyradikuloneuropathie“ (CIDP), einer schweren Schädigung des Immunsystems, die die Zerstörung der Nervenzellen zur Folge hat. Aber was anderes ist diese Wortreihe als eine weitere Chiffre für ein mysteriöses Geschehen, das beim Versuch, es in Schach zu halten, seinen eigenen Gesetzen folgt.

Zur Erklärung von Mangusos einzigartiger Variante taugt CIDP ohnehin nur halb. Der Begriff „Landrys aufsteigende Paralyse“ ist überholt und das Guillain-Barré-Syndrom nicht mehr als verwandt. Warum das Ganze nicht gleich Mallarmé-Apollinaire-Syndrom nennen, wenn es wie ein undurchdringliches Stück Poesie entziffert werden will. CIDP, könnte man mit der Verwegenheit sagen, die Sarah Manguso beim Schreiben über ihre Schreckensjahre geleitet hat, ist nichts anderes als das pathologische Gegenstück zu Wallace Stevens’ berühmter Vision des Gedichts als eines Texts, der sich dem Verstand fast vollständig widersetzt: „The poem must resist the intelligence/Almost successfully.“ Denn ums Verstehen, so viel macht Manguso gleich zu Anfang klar, geht es nicht. Es geht ums Erinnern.

„Zwei Arten von Verfall“ kann behaupten, dass seine Autorin das, worüber sie schreibt, am eigenen Leibe erlebt hat. Als ein auf mitfühlende Identifikation angelegter Erlebnisbericht taugt es allerdings so wenig wie als kathartische Beschwörung eigener Gefährdungen. Mangusos in jeder Hinsicht prosaische Aufzeichnungen sind nicht darauf aus, durch forcierte Unsentimentalität um so mehr Sentiment zu erzeugen. In ihrer detailbesessenen Sachlichkeit nutzen sie Krankheit als Fokus, um der Wahrnehmung eine buchstäblich ungewohnte Genauigkeit abzutrotzen. Die Verengung des Blicks auf den eigenen Körper weitet ihn zugleich. Krankheit wird zur Metapher für verschärfte Aufmerksamkeit.

„Alles, was geschieht, geschieht zum letzten Mal“, heißt es am Ende. „Wir sehen Dinge nur, wenn sie eine fatale Helligkeit verströmen. Und da ist nichts hinter dieser Helligkeit. Du kannst nicht aus der Erinnerung lernen. Du kannst nicht aus der Vermutung lernen. Du kannst dich nur so schnell vorwärtsbewegen, wie du bewegt wirst, wie Licht ins Licht.“

Das Ich von Mangusos Sätzen ist längst kein organisch empfindendes Ich mehr, es ist ein aus Krankheitsmomenten konstruierter Gegenstand. Eine große Depersonalisierungsmaschinerie hat dieses Ich wieder ausgespuckt, so wie die apparatemedizinischen Prozesse und wochenlangen Hospitalisierungen auch den Körper wieder ausgespuckt haben. Nun will er sein Triebleben wieder aufnehmen und verlangt in einer Mischung aus Selbstbestätigungsinteresse und animalischem Protest gegen den Tod nach Sex. Manguso übersetzt Psychologisches konsequent in Physisches. Gefühle sind für sie dabei nur Sachen, die sich in ihre Bestandteile zerlegen lassen.

Das bestimmt auch die Form. In kurzen Kapiteln reihen sich Absätze von meist nur ein, zwei oder drei Sätzen aneinander: ein Stückwerk, das den alten erzählerischen Zusammenhang scheut, um die neue Ordnung herzustellen, auf der die Krankheit besteht. Und plötzlich gewinnt ein Detail wie Mangusos Begeisterung für Joseph Hellers Kriegsroman „Catch-22“, den sie als Hilfsbuchhändlerin dutzendfach empfahl, eine ungeahnte Bedeutung: Auch Heller litt an CIDP. „Manchmal denke ich, dass ich im realen Universum schon mit CIDP geboren wurde, mit meinem ganzen Leben und Tod und dem Text dieses Buches. Dass ich unfähig bin, die Ereignisse meines Lebens geschehen zu lassen – entweder, weil sie schon geschehen sind, oder weil sie immerzu geschehen, an jedem möglichen Punkt der Raumzeit.“

Das Ungewöhnlichste an diesem mit ungewöhnlichen Beobachtungen überreichen Buch ist aber seine überraschende Leichtigkeit. Manguso versteht sich, ohne die Miene zu verziehen, auf einen grotesken Humor. Wenn ihr eine Krebskranke den „ kahlen Kopf unter der braunen Perücke“ zeigt und sagt, „dass sie ihre Perücke gern unter der Dusche einshampooniere, als ob es ihr eigenes Haar wäre“. Wenn es einem Hämatologen leichterfällt, mit sterbenden Patienten zu spielen als mit seiner lesbischen Tochter zu sprechen. Oder wenn die kranke Erzählerin ihren Freund Victor verführt, der „selbstlos mit einer hässlichen Version eines Mädchens geschlafen hatte, in die er mal verknallt gewesen war. Etwas weniger als sieben Jahre, nachdem ich von meiner Krankheit durch die mystische Kraft von Sex genesen war, bekam Victor ein Aneurysma und starb.“

Was ihre Gedichte betrifft, hat Sarah Manguso immer Wert darauf gelegt, dass man sie auch als Prosa lesen kann. Bei „Zwei Arten von Verfall“ lohnt sich die Gegenprobe. Und siehe: Ohne die leiseste lyrische Restsüße funktioniert dieses Buch tatsächlich als ein aus sich selbst heraus leuchtendes Gedicht.

Sarah Manguso: Zwei Arten von

Verfall. Aus dem

Amerikanischen von Annette Kühn und Ron Winkler. Luxbooks, Wiesbaden 2010. 241 S., 22,80 €.

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