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Kultur: Literatur: Der Nö-Sager

Um kurz nach acht betritt er seine Insel. Die ist weiß und quadratisch, mit sieben Klapphockern drauf und einem CD-Player mit Miniboxen.

Um kurz nach acht betritt er seine Insel. Die ist weiß und quadratisch, mit sieben Klapphockern drauf und einem CD-Player mit Miniboxen. Das ist alles, was er braucht, um die paar Besucher mit seiner Welt bekannt zu machen - mit diesem Universum aus Vokalen und Konsonanten, aus denen Stimmband und Zunge die abenteuerlichsten Klangkompositionen weben. Michael Lentz ist Lautpoet. Unter anderem. Er ist auch Saxophonist, Schriftsteller und Doktor der Literaturwissenschaft, zudem Plattensammler, Fußballspieler und seit einem guten Monat Ingeborg-Bachmann-Preisträger. Man könnte meinen, dass Letzteres, der literarische Ritterschlag, sein Leben auf den Kopf gestellt habe: all die Interviews, die Angebote, die schulterklopfenden Glückwünsche. Man kann ihn danach fragen und wird ein knappes "Nö" zu hören kriegen. Man kann versuchen, ihn ein wenig kennen zu lernen und wird dann über Umwege zu dem Schluss kommen, dass "Nö" vielleicht der Wahrheit entspricht. Michael Lentz scheint unbeirrbar bei sich. Das macht ihn kaum greifbar für Außenstehende. Und wohl auch wenig abhängig von Applaus und Auszeichnungen.

Auf der Bühne, auf seiner Insel, scheint das zunächst ganz anders. Da redet er ohne Unterlass, spricht die Leute direkt an, beleidigt, brüllt mitunter, da geht er aus sich heraus. Er sitzt mitten im Publikum und bleibt demselbigen doch so fremd wie ein Tier im Zoo, dem man mal staunend, mal gelangweilt und zwischendurch vielleicht ein wenig furchtsam bei seinem animalischen Gebaren zuschaut. Wie ein Besuch im Zoo wirkt dieser Abend ohnehin: Das Gehege von Michael Lentz ist nicht das einzige. Noch sieben weitere Plattformen haben die Performance-Künstler in der Münchner Reaktorhalle aufgebaut, und auf jeder lädt einer von ihnen ein zu einem Blick in seinen Mikrokosmos, mal mit Super-8-Filmen, mal mit abstrusen Geschichten aus dem Alltag, mal, wie bei Lentz, mit Hörbeispielen aus der Welt der Lautpoesie. Und immer wieder durchflutet dabei ein Lärm wie im Affenhaus die hohe, kahle Halle.

Das also ist es, was Lentz am wichtigsten ist zur Zeit, trotz Bachmann-Preis und Lesungsanfragen: die "schöne weite welt", eine Installations-Performance von Angela Dauber und Samuel Rachl. Rachl hatte befürchtet, dass Lentz nach dem Sieg in Klagenfurt aussteigen könnte aus dem Projekt. Aber dann, sagt er, habe der Michael ihm sofort mitgeteilt, dass das natürlich gar nicht in Frage komme. Die Show gehe vor. Fragt man den Autor selbst danach, die Antwort fällt weniger deutlich aus. Ungern lässt er sich einordnen, lässt er sich Vorschläge zur Einordnung seiner selbst, seiner Prioritäten, seiner Ziele vorlegen. Lieber vermittelt er den Eindruck von einem, auf den nichts oder wenig zutrifft, der sich höchstens definierbar macht über das, was ihn - vor allem künstlerisch - interessiert. Oder langweilt. Und da reicht sein Spektrum über Lautpoesie, Sprechakte und das Experimentieren mit Sprache weit hinaus. Nach mehreren veröffentlichten Erzählungen arbeitet er jetzt an einem Roman. Einer literarischen Form den Vorzug geben mag er nicht. Solange der Anspruch stimmt.

"Es wird so viel Überflüssiges geschrieben und gedruckt", sagt er beim Mittagessen im Straßenlokal und sieht dabei, ein junggebliebener Mittdreißiger mit rosigen Wangen zu hellblauem T-Shirt, selbst ein wenig aus wie ein potenzieller Verfasser der gemeinten Texte: Solcher nämlich, die sich damit begnügen, das gelebte Leben eins zu eins wiederzugeben. Die so genannte Popliteratur. "Die Beschreibung des Alltäglichen reicht mir nicht. Ein Stück Prosa über einen Geschlechtsakt muss doch einem Geschlechtsakt, wie er von jedem zu erleben wäre, noch etwas hinzufügen oder etwas wegnehmen. Ansonsten interessiert mich das nicht." Was er sucht, sind keine Handlungsanweisungen, auch keine Sensationen. Es ist das Andersartige. Da ist er unbeirrbar, das war schon immer so, sagt er, schon während der Jugend in Düren, einer Kleinstadt zwischen Köln und Aachen, deren rheinländische Sprechtradition ihm auch nach vierzehn Jahren in München noch anzuhören ist.

Die Beschreibung des "geistig total vor den Hund gekommenen" Dürens ist auch Teil der halb traditionellen, halb experimentellen Erzählung "Muttersterben", mit der Lentz die Klagenfurter Jury überzeugte. "Bitte alle Düren schließen", heißt der wohl meistzitierte Satz daraus - ein für Lentz typischer Kalauer, der ihm viele Fragen einbrachte, zu Provinz und Großstadt, zu München und Berlin. "Mich interessiert das alles nicht so. Ich frage mich, was ich in Berlin soll. Ohnehin ist diese permanente Fragerei nach dem eigenen Standort doch ziemlich kleinbürgerlich."

Im Zentrum des Textes steht nicht Düren, sondern der Krebstod der Mutter, das Erleben der Krankheit - schließlich das Verschwinden des Systems Mutter als ein nicht ortsgebundenes Modell. Das ist etwas, was Lentz als existenziell bezeichnet - womit er wieder beim Kern dessen ist, was ihn interessiert. Literarisch zumindest.Wie das privat aussieht, ist schwerer zu erfahren. An der Isar spazieren mag er, Fußball und Saxophon spielen, die gesammelten Platten zwecks Schonung auf Minidisk archivieren, aha. Doch schon die bevorzugte Abendgestaltung scheint ein zu persönliches Thema: Ausgehen? "Die Leute sollen lieber in sich gehen." Spaß? "Hat man schon, zum Beispiel wenn man sein eigenes Buch mit einem schönen Umschlag im Regal stehen hat." Allgemeine, entsubjektivierte Phrasen wie diese benutzt er gerne und schiebt dann meist ein kurzes Lachen nach. So lenkt Lentz immer wieder von sich ab, um ganz für sich zu bleiben, bei sich, wie er sagt. Es ist seine Art, das Gespräch funktional zu halten, seine Art, die Distanz zu schaffen, die ihn auch bei der Performance schützt vor der Nähe zum Publikum und somit der Abhängigkeit.

Anderthalb Stunden hat er am Ende auf seiner Plattform gequasselt, von Vokalen und Konsonanten, von den Künstlern Raoul Haussmann und Karl Friedrich Klaus, aber auch vom Mittagessen im Straßenlokal und seinem hellblauen T-Shirt. Danach steht er auf und verschwindet. Lässt die Leute auf ihren Hockern zurück, irritiert vielleicht oder amüsiert oder einfach nur müde. Applaus hat es nicht gegeben. Michael Lentz ist das nicht so wichtig. Eine Wirkungsabsicht, sagt er, habe er ohnehin nicht. Aber etwas haben die Besucher seiner Insel wohl sicher mitgenommen: einen Einblick in die Welt der Lautpoesie. Und die ist zwar nur ein kleiner, aber immerhin doch greifbarer Teil von der Welt des Michael Lentz.

Brigitte Böttcher

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