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Warlam Schalamow

© Matthes & Seitz

Literatur: Die eingebrannten Schrecken

Nachrichten aus der Gegenwelt des Gulag: zur Wiederentdeckung von Warlam Schalamow.

Noch zu Sowjetzeiten, 1979, wurde ein verlotterter alter Schriftsteller mithilfe des Litfond, der Sozialorganisation der Schriftsteller, in ein Moskauer Altersheim abgeschoben. Man wusste sich nicht anders zu helfen. Er hatte die meisten Kontakte zu seiner Umwelt abgebrochen und erschien seiner Umgebung als asozialer Sonderling. Er durchlebte noch einmal seine Vergangenheit, hielt sich isoliert, nahm frühere Gewohnheiten wieder an, versteckte Nahrungsmittel. Weil man ihn zunehmend für verrückt hielt, wurde er vom Altersheim ins Irrenhaus gebracht, ein für abweichende Sowjetbürger kein ungewöhnlicher Ort. Er starb dort am 17. Januar 1982, wahrscheinlich an einer Lungenentzündung wegen Unterkühlung auf dem Transport.

Warlam Schalamow hatte siebzehn einhalb Jahre in Stalin’schen Lagern verbracht. Er ist einer der schonungslosesten Schriftzeugen des Systems, Solsche nizyn mindestens ebenbürtig, allerdings radikaler. 1924, als 17-Jähriger, war er nach Moskau gegangen und hatte Verbindung zu revolutionären Literaten gefunden. Vor allem aber geriet er ab 1927 in die Kreise linker Opposition. Er wurde im Februar 1929 in einer illegalen Druckerei verhaftet, weil er Lenins sogenanntes Testament, in dem dieser die Partei vor Stalin gewarnt hatte, kopierte. Ihm wurde „konterrevolutionäre Agitation und Organisation“ nach dem berüchtigten Paragrafen 58 vorgeworfen. Das Urteil lautete auf drei Jahre Haft im „Konzentrationslager“ als „sozial gefährliches Element“ mit anschließender fünfjähriger Verbannung in den Norden. Er war damit zum „Volksfeind“ ab gestempelt. Er kam in den Nordural: nach Wischera.

Über diese Zeit schrieb Schalamow einen „Anti-Roman“, der ein Fragment blieb. Die Bruchstückhaftigkeit konnte er im Rückblick erklären: Kein ordnendes Bewusstsein könne den Weg einer Figur oder einen Lebensgang noch in folgerichtigen Schritten innerer Kausalität fassen. Die Katastrophen, denen die Menschen im Stalinismus ausgesetzt waren, bedingten, dass die erzähle rische Großform für Schalamow nicht mehr möglich war.

Nach seiner zweiten Verhaftung im Januar 1937, diesmal wegen „konterrevolutionärer trotzkistischer Tätigkeit“, wurde Schalamow zur Haft im „Arbeitsbesserungslager“ verurteilt und in die Kolyma deportiert, nach Nordostsibirien, in das Grausamkeitszentrum des Stalinismus. Solschenizyn nannte die Gulags dort „Vernichtungsarbeitslager“. Sie wurden nach 1945, als die genauere Kunde von den deutschen Konzentrations lagern sich ausbreitete, „Auschwitz ohne Öfen“ genannt. Schalamow galt mehrfach als dochodjaga, als Todeskandidat mit extremem Untergewicht und schweren Gebrechen. Unter der Obhut einer Ärztin fand er aus der Sterbezone zurück. Später wurde er zum Arzthelfer ausgebildet. Seine literarische Summe besteht in den knapp 150 „Erzählungen aus Kolyma“, die er in sechs Zyklen ordnete. Sie ergeben das schonungsloseste Panorama des Gulag, das sich denken lässt. Es hat früher vier Versuche gegeben, das Werk Schalamows in deutscher Übersetzung bekannt zu machen. Diese Bücher blieben ohne Wirkung. Nun scheint sich ein gewisser Erfolg anzubahnen, vielleicht auch unter der späten Wirkung Jorge Semprúns, der Schalamow zu seinen literarischen Gewährsleuten rechnete. Bisher sind zwei dieser Zyklen in neuer, sorgfältiger Übersetzung von Gabriele Leupold auf Deutsch greifbar. Sie umfassen rund ein Drittel des Gesamtbestandes.

Das Lager war für Schalamow das Paradigma des Sowjetsystems, kein gesondertes Teilsystem innerhalb eines größeren anderen, sondern die Quintessenz des Ganzen. Demnach sind die Grenzen zwischen Lager und sowjetischem Alltag minimiert. In einem Brief widmete er seine erzählende Prosa dieser Totalität: „Jede meiner Erzählungen ist eine Ohrfeige für den Stalinismus, und wie jede Ohrfeige gehorcht sie reinen Muskelgesetzen.“

Die Häftlinge sind in den Erzählungen von Schalamow Menschen meist ohne Biografie, nur scharf umrissen in der Drangsal des Überlebens. Es gilt nur das durch Arbeit, Hunger und Kälte, durch den Daseins- und Nachbarkampf ritualisierte Präsens. Der erste Zyklus „Durch den Schnee“, vor einem Jahr erschienen, ist fast ausschließlich den Opfern mit gewidmet. „Linkes Ufer“, der zweite, visiert auch handelnde Personen an: den Leiter des Dalstroi, der Hauptbauverwaltung, angemaßte und gewitzte Chefs aller Art, machtbesessene Ganoven, Spitzel, ein Akademiemitglied, einen Trupp von Rebellen. Die meisten der Geschichten spielen im Krankenhaus, umkreisen hilfsbereite und abgestumpfte Ärzte, irrlichtern durch die Szenen der medizinischen Not, der ärztlichen Vergeblichkeit, der unlebbaren Paradoxien, aber auch der stummen Hilfe. Auch andere Schauplätze tauchen auf, vor allem das Butyrka-Untersuchungsgefängnis in Moskau. Bruchstücke der eigenen Biografie werden unter dem Realnamen „Schalamow“ und dem erfunden „Krist“ hingestellt. Wir blicken in ihnen wie durch versinterte Fenster auf eine Epoche, die dem Blick kaum mehr zugänglich ist.

Eine der Perspektiven, auf die alles zuläuft, ist das Wort „Erbitterung“. Es passt in kein intellektuelles oder moralisches Fach: Es ist ein mörderisches Wort; es frisst einen von innen auf. Es verhilft nicht zur Unterscheidung von Gut und Böse, zur Erhaltung moralischer Kategorien, zur inneren Reinigung, zur Selbst erhaltung durch Wertebewusstsein. Es führt nirgendwo hin, es fällt auf einen zurück. Damit kann man kein seelisches Dickicht entflechten. Wenn Schalamow über das Lager als die perfekte, allseitige Gegenwelt des Menschen schreibt, erhält seine Darstellung etwas Litaneihaftes. Handelt es sich bei einem solchen Passus der unabdingbaren Verwerfung, die keinen Spalt der Freiheit, des Andersseins, der Hoffnung lässt, nicht doch um einen Ausdruck negativer Theologie? Das schwarze Glaubensbekenntnis in einer pervertierten Schöpfung?

Schalamow reflektierte über die Sprache, die dem Primitivismus des Lagers, seinen animalischen Gesetzen, seiner Vertierung angemessen sein könne. Er hat ein Verfahren der Aufzeichnung entwickelt, das er als kunstlos ausgab. Aber gerade dieser Absicht liegt eine ästhetische Überlegung zugrunde, die seine Episoden mit der hochbewussten Dokumentarliteratur von Tretjakow bis zu Peter Weiss verbindet.

Schalamow betrieb eine Abräumarbeit sondergleichen. Ausgebreitet wird das Gegenbild des Aufklärungssatzes vom Aufstieg des Menschen aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit. Die bürgerliche Literatur des 19. Jahrhunderts hielt er für mitschuldig an der Katastrophe. Gerade deren Vertrauen in die menschlichen Entfaltungsmöglichkeiten hat nach seiner Auffassung Auschwitz und den Gulag mit ermöglicht. Der angemessene Schriftsteller war für ihn „Pluto, der der Hölle entsteigt, und nicht Orpheus, der in die Hölle hinabsteigt.“ Schalamow stellte sich die gleiche Frage wie Primo Levi: „Ist das ein Mensch?“ Wenn die restlichen seiner Kolyma-Geschichten schließlich auf Deutsch erscheinen, erhalten wir einen neuen Klassiker der Höllen im 20. Jahrhundert. Und vermutlich können wir dann dem Systemvergleich mit den NS-Konzentrationslagern nicht mehr entgehen.

Warlam Schalamow: Linkes Ufer. Erzählungen aus Kolyma 2. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Matthes & Seitz, Berlin 2008. 320 S., 22,80 €. – Karl Schlögel, Durs Grünbein und Katharina Raabe diskutieren am heutigen Dienstag um 20 Uhr im Literarischen Colloquium Berlin (Am Sandwerder 5) über Schalamow.

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