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Ähnlichkeit nicht ausgeschlossen. Gstreins Romanheldin erinnert an Ulla Unseld-Berkéwicz, hier vor dem Porträt ihres verstorbenen Mannes. Fotos: ddp, dpa

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Literatur: Die Rache des Lektors

Norbert Gstrein porträtiert in seinem Roman "Die ganze Wahrheit" eine Verlegerwitwe. Ähnlichkeiten mit Suhrkamp-Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz sind nicht ausgeschlossen.

Warnende Stimmen hat Norbert Gstrein vermutlich viele vernommen, einige gute Ratschläge, dieses Buch besser nicht zu schreiben. Einen Roman, dessen Hauptfigur Suhrkamp-Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz nachempfunden ist, wie Gstrein bei einer Vorabbuchpremiere in Berlin offen zugab.

Sprechender können erste Sätze demnach gar nicht sein, den Spaß, die Fährnisse des eigenen Lebens mit Fiktionen zu vermischen, wollte sich Gstrein nicht nehmen lassen. „Man hat mir abgeraten, darüber zu schreiben“, hebt der Ich-Erzähler an, „und natürlich kenne ich Dagmar lange genug, um zu wissen, was mich erwartet, wenn nur etwas von dem, was ich über sie in die Welt setze, anfechtbar ist. Ich habe oft genug erlebt, mit welchen Lappalien sie ihren Anwalt betraut hat, den beflissenen Dr. Mrak, um Leute, die sie für ihre Feinde hielt, mundtot zu machen, (...) Meine Darstellung, da bin ich sicher, wird noch am Tag der Veröffentlichung auf seinem Schreibtisch landen und auf Punkt und Komma überprüft werden, ob sich darin etwas Justitiables findet.“

Dann aber beginnt der Erzähler, den Konjunktiv zu verwenden. Er schildert, was er alles hätte tun können, um sich vor Dr. Mrak und Dagmar zu schützen, alles „Kindereien“ wie er weiß, den Vorwurf einer plumpen Täuschung will er sich nicht einhandeln. Ihm geht es um die Wahrheit – auch wenn es nie „die ganze Wahrheit“ sein kann, die später eine große Rolle spielt und Gstreins Roman seinen Titel gibt. Das literarische Spiel beginnt hier im Konjunktiv, und die Optionen, die der Erzähler hat, gehören schon zu den Täuschungsmanövern und Fiktionen von Gstrein selbst.

Angesiedelt ist „Die ganze Wahrheit“ in Wien, nicht in Frankfurt, die Verlegerin heißt Dagmar, nicht Ulla, ihr Mann Heinrich Glück, nicht Siegfried Unseld, und der Ich-Erzähler Wilfred, nicht Norbert. Wilfred ist in Glücks Verlag als Lektor angestellt, und dieser Verlag erinnert kaum an Suhrkamp. Er wird finanziert von Glücks erster Ehefrau, hatte eine kurze gute Zeit in den sechziger Jahren, mit vier Büchern von experimentellen Lyrikerinnen, „in seiner Radikalität immer noch Legende“. Aber über lokale Größe ist der Verlag nie hinausgekommen. So weit das Setting, zu dem noch ein paar andere Figuren im Verlag gehören sowie die junge, von Dagmar verehrte katholische Mystikerin und Dichterin Anabel Falkner. Sie veröffentlichte ein Buch bei Glück und nahm sich unter geheimnisvollen Umständen das Leben.

Näher an der Realität sind die Geschehnisse und die Dramaturgie von Gstreins Roman. Er beginnt mit dem Begräbnis von Glück, er beschreibt „das Grelle“ von Dagmars Auftritt dort, das an Ulla Unseld-Berkéwicz’ theatrale Auftritte bei Unselds Beerdigung und Trauerfeier gemahnt. Und es endet mit Dagmars Entschluss, ein Buch über das Sterben und den Tod ihres Mannes zu schreiben, so wie es Ulla Berkéwicz tatsächlich mit „Überlebnis“ gemacht hat. Ein Buch, das „Das Jetzt des Jetzt“ heißt, „ein Lebensbuch, ein Todesbuch wie nur je eines“. Wilfred soll es lektorieren, was er verweigert und ihn den Job kostet. Er beginnt selbst mit Aufzeichnungen, nachdem er an einer Biografie über Heinrich Glück gescheitert ist, und porträtiert, so will es Gstreins Roman, vor allem Dagmar: ihre Theatralik, ihren Hang zur Mystik, ihr Faible für Zahlen, ihren Philosemitismus, ihr Machtbewusstsein, ihre Irrationalität. Wilfred ist fasziniert und abgestoßen zugleich, er hat Angst vor ihr, wird aber zunehmend gleichgültiger, resistenter.

Es ist müßig, darüber zu spekulieren, wie genau Gstrein sein wahres Vorbild porträtiert hat, wie sehr er sich von dem hat leiten lassen, was über Unseld-Berkéwicz an Gerüchten und Wahrem im Umlauf ist. Für die Lektüre ist das eher hinderlich, denn die Dagmar-Figur wird dadurch nicht interessanter, sondern von Unseld-Berkéwicz’ persona publica überlagert. Und wer will die Suhrkamp-Verlegerin überhaupt so genau kennenlernen? Lauert hinter ihrer geheimnisumwitterter Aura nicht auch etwas Profanes?

Gstreins Dagmar hat auch ohne den Bezug zur Realität genug Facetten. Wilfred, der Ich-Erzähler, weiß jedoch, die ganze Wahrheit über sie nicht zu Papier bringen zu können. Gerade den Begriff der „ganzen Wahrheit“ verwendet Gstrein spielerisch und führt ihn ad absurdum. Je mehr die ganze Wahrheit über eine Figur erzählt oder behauptet wird, desto größer ist die Leere, die sich dahinter auftut.

Man versteht den Subtext dieses Romans, versteht, dass er auch eine Geschichte von Machtgier und Machtmissbrauch erzählt. Trotzdem beschreibt „Die ganze Wahrheit“ ein nurmehr sehr kleines, enges, jedem Universellen abholdes Milieu, lohnen Figuren wie Dagmar, Heinrich Glück oder Wilfred den Aufwand nicht, den Gstrein betreibt. Ihre widersprüchlichen Absichten und Regungen, ihre psychologische Ausstattung – all das ist durch die Brille von Wilfred zwar wunderbar genau beschrieben. Hier erkennt man den meisterhaften Erzähler Gstrein, den Autor so kluger, verzwickter Romane wie „Die englischen Jahre“ oder „Das Handwerk des Tötens“.

Aber immer, wenn Wilfred „im Nachhinein“ zu Erkenntnissen kommt, wenn er Formulierungen benutzt wie „Nach allem, was ich jetzt über sie weiß“ oder „Ich kann nicht sagen, wie viel er zu der Zeit womöglich schon ahnte“, beschleicht einen das Gefühl, es hier mit einer unangemessenen Dramatik zu tun zu haben. Die erfüllt ihren Zweck, man liest den Roman interessiert und manchmal amüsiert, Szenen wie jene in Anabel Falkners Heimatdorf stecken gar voller poetischer Kraft. Am Ende aber ist es vor allem die Geschichte eines Lektors, der entlassen wird und sich ärgert, dass eine Verlegerin sich anmaßt, über Leben und Tod ihres Mannes in Form eines Buchs verfügen zu können.

„Wem gehört die Geschichte?“, heißt ein Büchlein, mit dem Gstrein 2004 auf übelwollende Kritiker seines Romans „Das Handwerk des Tötens“ über den Tod eines Reporters im Jugoslawien-Krieg reagierte. Sie hatten ihm eine allzu platte Abbildung der Wirklichkeit vorgeworfen, einen unseriösen Umgang mit dem Tod des „Stern“-Reporters Gabriel Grüner, „über dessen Leben und dessen Tod ich zu wenig weiß, als dass ich davon erzählen könnte“, wie es Gstrein dem Roman seinerzeit voranstellte.

In seiner Antwort wandte er sich dagegen, dass Menschen auf bestimmte Geschichten Besitzansprüche erheben, dass sie „darüber verfügen wollen, wer sie erzählen dürfe und wer nicht“. Vor diesem Hintergrund ist die Stoffwahl seines neuen Romans fast eine naturgemäße. Von „Abrechnung“ war die Rede, von „gekränkter Eitelkeit“: Gstrein war selbst Suhrkamp-Autor, rund um die Veröffentlichung von „Das Handwerk des Tötens“ hätte es Probleme gegeben. Doch muss es Gstrein primär nach „Überlebnis“ – für ihn eine Anmaßung? – gereizt haben, ein Gegenbuch zu schreiben, der Suhrkamp-Verlegerin die eigene Poetik entgegenzusetzen, ihr die vermeintliche ganze Wahrheit über Siegfried Unseld zu entreißen. Und sich, wie Wilfred sagt, „in Widerspruch gegen ihr irrationales Gewese“ zu setzen und damit „in Opposition zur Wahrheit hinter der Wahrheit, in Opposition zum Prinzip Hexe, zum ,Weiblichen’ und zum ,Jüdischen’, das sie gepachtet hatte (...)“.

Am Ende erhält Wilfred die Warnung, dass Dagmar nicht zimperlich mit ihm umspringen werde, sollte er sie angreifen. Ob Gstrein hier eine sich schon bald selbst erfüllende Prophezeiung notiert hat? Diese Frage kann nur Unseld-Berkéwicz beantworten. Am besten, sie nimmt das Buch rational und schweigsam zur Kenntnis – und klagt selbst dann nicht, wenn ihr Dr. Mrak Justitiables findet.

Die Personen

Der Schriftsteller Norbert Gstrein (kl. Foto) wurde 1961 in Tirol geboren. 1989 gewann er den Bachmann-Preis. 2006 wechselte er von Suhrkamp zu Hanser, wo Die ganze Wahrheit am 14. August erscheint (304 S., 19,90 €).

Ulla Unseld-Berkéwicz übernahm 2002 nach dem Tod ihres Mannes Siegfried Unseld den Suhrkamp Verlag. 2008 erschien ihr Buch „Überlebnis“ über das Sterben Unselds.

2010 zog der Verlag von Frankfurt nach Berlin.

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