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Literatur: Die vier vom Bahndamm

Münchhauseniade unter den Bedingungen von Hartz IV und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen: Akos Domas Roman „Die allgemeine Tauglichkeit“.

Ernst Kreuder, einer von vielen Vergessenen der deutschen Nachkriegsliteratur, veröffentlichte 1946 einen Roman der inneren Emigration, der bald darauf auch als Fibel gegen die Anpassungs- und Vereinnahmungszwänge des sich formierenden Wirtschaftswunderstaats verstanden wurde: „Die Gesellschaft vom Dachboden“. Ihre Gestalten flüchten sich in Tagträume und die Skurrilität eines anachronistischen Habitus. Wollte man die „Gesellschaft vom Dachboden“ ins Heute verpflanzen, wäre wohl alle einstige Poesie der Nützlichkeitsverweigerer zerstoben. Sie würde sich im toten Winkel am Rand einer deutschen Klein- oder Mittelstadt einquartiert haben, der Bahndamm, der ihnen das Tageslicht raubt, wäre für sie das Abstellgleis – so wie bei Akos Doma.

„Unsere Burg befindet sich am nördlichen Stadtrand“, heißt es im zweiten Roman des im bayrischen Eichstätt lebenden, auf Deutsch schreibenden Ungarn. „Dort, wo die Ausfahrtsstraße hinter einer Bahnunterführung in einer langgezogenen Rechtskurve das Tal verlässt, zweigt nach links ein kleines, unscheinbares Seitental ab, eine Sackgasse. Unten noch breit und asphaltiert, wird sie immer schmaler und löchriger und versandet oben in Schotter und Gestrüpp und Schutthalden. Das ist unser Ende, der Hinterausgang der Welt, da wohnen wir. Wegen des Abhangs auf der Südseite und der dumm verlaufenden Krümmung des Tals bleibt unser Haus bis auf einige Stunden am frühen Morgen, wenn ohnehin kein Aas wach ist, den ganzen Tag im Schatten, unerreicht von auch nur einem einzigen Sonnenstrahl.“

Hier zieht eines Tages das Fantastische ein. Nicht dass die Einwohnerschaft, das Verliererquartett Ludovik (der mutterlose Selbstmordkandidat), Igor (der sibirische Kummersäufer), Amir (der von Abschiebung bedrohte persische Kleptomane) und Ferdinand (der zynisch-larmoyante Familienflüchtling und Ich-Erzähler), beim Einbruch in die Villa eines Urologen nicht ertappt und mit dem gestohlenen Wohnmobil wenig später nicht von Hochwasserfluten mitgerissen werden, ist so zauberhaft. Das Wunder ereignet sich in Gestalt eines echten Menschen. Albert, ein ewig gut gelaunter Blondschopf, krempelt ihr Leben um. Mit Tatkraft, Elan und Zukunftsplänen steckt er sie einen nach dem anderen an: Sie klotzen ran. Aus der Schimmelbude soll ein Ausflugslokal mit Frühstückspension werden, jeder der Gestrandeten sein verborgenes Talent entdecken, ob Maler, Familienvater, Gastwirt oder Minigolfwart. Das Wunder scheint sich zu ereignen, wenn nicht alles zusammenbräche und der Suff sich meldete. Oder doch nur, bevor nicht alles wieder eine glücklichere Wendung nimmt. Oder ist alles nur geträumt, frei fantasiert in Mußestunden, da der Erzähler-Taugenichts den Freuden der im Garten sprießenden Hanfsaat frönt?

„Die allgemeine Tauglichkeit“ ist eine Geschichte, für die ihr Autor seiner poetischen Lizenz keine Zügel anlegen musste. Im Gegenteil. Wer wissen will, wie eine Münchhauseniade unter den Bedingungen von Hartz IV und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen aussehen könnte, der greife zu Akos Doma. Dass es gerade die Zugereisten, scheinbar Fremden sind, denen in burlesken Wendungen das Kunststück zu gelingen scheint, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen, ist kein Wunder. Wer aus dem Chaos kommt, kann es auch besser managen. Fast zu schön, um wahr zu sein, was Igor als Trinkspruch für die Gesellschaft vom Bahndamm ausgibt: „Wir versprechen also, dass ihr immer zurückkehren könnt. Ihr alle, die ihr jetzt in die weite Welt hinausziehen wollt, die ihr aber bald wieder vor der Tür stehen werdet, wenn euch die Menschen einmal angespuckt haben, weil ihr nicht ihren Erwartungen entsprecht, wenn euch die Welt wieder einmal angespuckt hat, weil ihr nicht für sie geschaffen seid.“

Akos Doma hält sich beim Fabulieren gleich weit vom großen Weltschmerz wie vom Katzenjammer entfernt. Mit seinem Galgenhumor strahlt er eine Zuversicht aus, die man kaum für möglich hält. Doch die Hoffnung kommt nicht von den abseitigen Existenzen, die wie jedermann vom Leben auf der Sonnenseite träumen, sondern sie liegt in der begeisternden Art des Erzählens selbst mit seinen unerwarteten Wendungen, seinem labyrinthartigen Versteckspiel mit dem Glück, den uns jede Distanz zu den Außenseitern nehmenden Dialogen, der fast liebenswerten Altklugheit des Ich-Erzählers, der die Schuld für seine Misere immer bei den anderen sucht. Auf den respektlosen Namen Mette-Marit für eine finnische Studentin, welche die vier Herren wohl mehr aus Einsamkeit denn akuter Geldnot hin und wieder zwischen ihre Schenkel nimmt, muss man erst einmal kommen. Schon solcher Einfälle wegen lohnt sich die Lektüre. Und wegen Albert, ohne den es die ganze Geschichte gar nicht gäbe. Ist er nun Gutmensch oder Scharlatan?

Akos Doma: Die allgemeine Tauglichkeit. Roman. Rotbuch Verlag, Berlin 2011. 272 Seiten, 18,95 €.

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