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Richard Ford

© Berlin Verlag

Literatur: Im Zeichen des Truthahns

Das Lebensgefühl mit 55: Richard Ford beendet mit dem Roman "Die Lage des Landes" seine große Bascombe-Trilogie.

Von Gregor Dotzauer

Ein Name, ein Bild, ein Kerl. So hätte man es gerne mit Frank Bascombe, dessen Ruf als klassische Figur der jüngeren amerikanischen Literatur die Schärfe seines Profils längst übertrifft. Ja es scheint, als würde er sogar für seinen Erfinder Richard Ford, der ihm drei gewaltige Romane gewidmet hat, von Mal zu Mal weniger greifbar. Man kann sich nur damit trösten, dass nicht einmal mehr Bascombe selbst sich auf den Grund kommt: "Ich hatte meine Geschichte, klar, aber eigentlich keinen richtig berechenbaren Charakter, zumindest keine innere Substanz, die ich oder sonst wer für Vorhersagen nutzen konnte. Und ich fand, das konnte nicht so bleiben. Ich musste losziehen und für den wieder erkennbaren, überzeugenden Anschein eines Charakters sorgen." Es könnten aber auch falsche Erwartungen sein, wenn die fast 700 Seiten von "Die Lage des Landes" nicht wirklich Aufschluss darüber geben, was ihn ausmacht: Nur von Kirschen oder Pfirsichen bleibt ein Kern zurück.

Nicht, dass Bascombe eine Durchschnittsexistenz führen würde. Er liegt mit allem, was man ihm zugute halten will, darüber. Denkt und denkt und denkt, mit dem Eifer eines 55-Jährigen, der auf dem unwiderruflich Geschehenen herumkaut. Gehört zur gehobenen Mittelklasse. Darf eine gehobene – auch emotionale – Intelligenz beanspruchen. Trotzt den Wechselfällen des Lebens mit heiterer Verzweiflung und verzweifelter Heiterkeit. Sieht als aufrechter Demokrat im Herbst 2000 mit Ingrimm dabei zu, wie die Republikaner die Macht übernehmen. Und lässt uns an all dem teilhaben. Bascombe ist der originellste Küchentischphilosoph, den man sich vorstellen kann: furchtlos vor charmant aufgeschäumten Plattitüden, aber auch fähig zu zielsicher abgeschossenen Aphorismen. Bei beidem kann man ihm nur schwer widersprechen. Denn wo er recht hat, hat er recht.

Als spätberufener Immobilienmakler, der eigentlich Schriftsteller werden wollte und sich dann als Sportreporter verdingte, lässt er sich auch deshalb nicht mit einem schnellen Blick würdigen, weil er zuviele Lebensstationen absolviert hat. Und in den 22 Jahren, die seit Bascombes erstem Auftritt in "Der Sportreporter" vergangen sind, hat Richard Ford quasi jeden Seelenzentimeter seines Helden vermessen. Man müsste einen Schritt zurücktreten können, um ihn in seiner ganzen Statur zu erkennen. Doch in dem Bewusstseinsnaturalismus, mit dem Ford ihn betrachtet, sieht man ihn vielleicht am besten als eine Art exiszenziellen Durchlauferhitzer.

Nur Tupfer eines Plots

In dieser Flüchtigkeit gehört Frank Bascombe unzweifelhaft der Literatur allein. Ein Film, der die zwei Tage vor Thanksgiving, die er in der "Lage des Landes" durchlebt, auch nur annähernd nachvollziehen wollte, müsste mindestens zwölf Stunden dauern, und er würde zur einen Hälfte aus Autofahrten durch New Jersey mit Off-Monologen bestehen und zur anderen aus einer Rückblendenflut, die wiederum nur in innere Monologe mündet.

Ähnlich wie in dem vor zwölf Jahren erschienenen "Unabhängigkeitstag" gönnt Ford dem letzten Teil der Bascombe-Trilogie nur Tupfer eines Plots. "Die Lage des Landes" besteht aus lose verbundenen Beobachtungen, Erinnerungen, Vorahnungen und Selbstbefragungen: in den szenischen Inseln, die im Strom dieses Bewusstseins verankert sind, einerseits hochartifiziell, in der dialogischen Aufbereitung und exzessiven Beschreibungslust der äußeren Welt aber auch wieder ganz bodenständig.

Die mehrmals variierte Leitfrage lautet: "Bist Du bereit, deinem Schöpfer zu begegnen?" Schon der Prolog – ein wunderbares Gleichnis, in dem Bascombe als Atlantikschwimmer den Weg zurück ans Land und ins Leben sucht – macht klar, dass Fords Held sie unter verschärften Bedingungen beantworten muss. In der Mayo-Klinik hat er sich "die Prostata mit sechzig radioaktiven Smart Bombs aus titaniumumhüllten 'Schrotkugeln' namens Jod-Seeds beschießen lassen", und auch jenseits der Krebs-Bedrohung läuft alles auf einen ziemlich verdorbenen "Tag des Truthahns" hinaus.

Maximum an innerer Spannung

Bascombes zweite Ehefrau Sally hat sich von der Wiederkehr ihres für tot erklärten Ex-Gatten so aus der Bahn werfen lassen, dass sie beschlossen hat, wieder mit ihm zu leben. Die Polizei sucht Frank, weil in der Nähe des Krankenhauses, das er im Rahmen seiner stündlichen Pinkelpausen besucht hat und in dem einst sein ältester Sohn starb, ein Sprengsatz hochgegangen ist. Und ach, die angerückten Kinder. Die 25-jährige Clarissa, die beschlossen zu haben schien, für immer der Frauenliebe zu frönen, hat gerade ihre Freundin abserviert, auf die auch Frank ein Auge geworfen hatte. Nun findet sich an Clarissas Seite ein unerträglicher Beau seiner Altersklasse. Und Bascombes 27-jähriger Sohn Paul, der Texte für eine Grußkartenfirma schreibt, hat eine so unverschämt schöne Freundin abbekommen, dass der Vater rätselt, was eine solch zauberhafte Erscheinung bewegt haben könnte, sich mit dem langweiligen Spross einzulassen. Paul spielt überdies mit dem Gedanken, in die väterliche Firma einzusteigen – wo ihm mit Mike Mahoney, einem eingewanderten Tibeter, der seinen Buddhismus bruchlos mit seiner Begeisterung für die Republikaner versöhnt hat, doch schon ein fähiger Kompagnon assistiert.

Richard Ford, 1944 in Jackson/Mississippi geboren und heute in Maine zu Hause, erzeugt mit einem Minimum an äußerem Geschehen ein Maximum an innerer Spannung. Seite um Seite begleitet er Bascombes Fährnisse zwischen Haddam, wo sein Held noch in "Unabhängigkeitstag" wohnte, und dessen neuem Wohnort Sea-Clift an der Küste. Noch dem schrecklichsten Moment versucht er, mit der Frank eigenen Selbstironie, eine komische Wendung abzuringen oder ihm die Gelassenheit eines bei Mike Mahoney frisch angelernten Buddhisten zu schenken, dessen Erleuchtungen allerdings nur auf Sparflamme stattfinden: Er scheut alles tiefer gehende Spirituelle.

Bedauerlich, dass sich dieses Sprachkunstwerk im Deutschen immer wieder hinter ungelenken, schiefen und allzu wörtlichen Übersetzungen versteckt. Als Entschuldigung kann nur gelten, dass Frank Heibert dieses Buch, das im vergangenen November in den USA erschien, in einem Tempo durchpeitschen musste, das der lässigen Eleganz seiner hochidiomatischen Sprache und ihren manchmal absatzlangen syntaktischen Girlanden nicht gut getan hat.

"Stand der Dinge"

Ein böses Omen mag schon der vom Verlag gewählte Titel sein. "The Lay of the Land" ist eben nicht "Die Lage des Landes". Es handelt sich um eine im Buch vielfach umspielte Wendung, die in ihrer mehrsinnigen Unschuld zunächst einfach den "Stand der Dinge" meint. Ford gibt zwar sehr wohl eine Diagnose zur Lage der Nation ab. Sie wird aber überlagert von einer persönlichen Bilanz, die das, was die Welt auf ihren Schultern trägt, ausdrücklich gegen die privaten Beschwernisse abwägt – und das Private obsiegen lässt.

Ägerlicher sind Heiberts Anglizismen: "Womit ich gar nicht gerechnet hatte, ist Aktivität in meiner Einfahrt." Jemandes Charakter bietet "guten Wert" (good value). Frank leugnet, ein "Herausfinder oder Verbreiter" (inquirer or divulger) zu sein. Was heißt es, wenn eine "Nacht immer geistiger" wird (the night spirited on)? Das alles sorgt nicht gerade für "willkommenheißende" Gefühle. Wo immer im Amerikanischen ein Partizip auftaucht, da wird man es meist auch im Deutschen finden. Und wo immer ein zusammengesetztes Bindestrich-Monster um Entkoppelung bittet, da wird es garantiert beibehalten, von der "Herunterkurbelbewegung" über die "Näher-an-der-Heimat-Front" bis zum "Jüdische-Metzger-Zwinkern". Und lässt sich irgendwie verstehen, was folgender Satz bedeutet: "Das A und O des Lebens war komplex genug, um daraus einen Pullover zu stricken, der so groß war wie der ganze Scheißozean"?

"Unabhängigkeitstag" war 1995 die erste große Symphonie im Konzert der Fordschen Vergeblichkeiten – deutlich unterschieden vom maulfaulen, mit Wörtern geizenden Pathos früherer Geschichten, aber auch auf eine andere Wahrheit aus. Noch "Der Sportreporter" kam aus der Ökonomie seiner Shortstories. Im "Unabhängigkeitstag2 wähnte sich Bascombe in einer "Existenzperiode". Nun hat er sich in eine "Permanenzphase" begeben.Die Ironie des Begriffs besteht natürlich darin, dass auf Bascombes schwankendem Grund nichts von Dauer ist. Man muss Ford deshalb gegen den Vorwurf verteidigen, er habe sich darum gedrückt, den 11. September zu verarbeiten. Einerseits denkt man als Leser ständig mit, dass die Geschichte nur einen Wimpernschlag davon entfernt ist. Andererseits kann man sich fragen, ob Bascombes Amerikabild sich davon hätte irritieren lassen.

"Die Lage des Landes", eine hinreißende Expedition in das Lebensgefühl mit 55, steht wie jeder Roman der Bascombe-Trilogie für sich. Man muss die Figuren, die Ford wie zu einem Klassentreffen noch einmal zusammenruft, nicht kennen, um zu begreifen, wie fremd sie Bascombe geworden sind – auch seine erste Frau Ann, die ihm in sentimentaler Versöhnlichkeit vorschlägt, sich wieder zusammenzutun. Um aber eine Ahnung zu bekommen, aus welchen Lebensaltern es Bascombe an diesen Punkt katapultiert hat, lohnt es sich, alle drei Teile zu lesen: rückwärts, vorwärts, in jeder beliebigen Reihenfolge. Hauptsache, man liest sie.

Richard Ford: Die Lage des Landes. Roman. Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Berlin Verlag, Berlin 2007. 683 Seiten, 24,90 €. The Lay of the Land. Vintage/Random House. 496 Seiten, ca. 8,90 €. Das Taschenbuch erscheint am 24. Juli.

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