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Hol’ schon mal den Wagen. Männer entdecken eine neue, emanzipiertere Vaterrolle.

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Literatur: Mein Buch gehört mir

Ich halte das nicht mehr aus und schreibe es auf: Ob Thomas Hettche oder Peter Wawerzinek - die neue Ich-Literatur der Männer ist ein Fortschritt.

Gefühle müssen raus. Auch Männer können inzwischen ein Lied davon singen, können weinen, schreien und ihrem Schmerz Ausdruck verleihen. Früher nannte man das Bekenntnisliteratur oder Betroffenheitslyrik. Sie war unbeschreiblich weiblich, oft nicht von hoher literarischer Qualität, aber mit garantiertem Identifikationspotenzial. Verena Stefans feministischer Klassiker „Häutungen“, Anja Meulenbelts „Die Scham ist vorbei“ und Svende Merians Schmachtfetzen „Tod eines Märchenprinzen“ als Pamphlete gegen linke Machos: Die Bücher waren Kult, nicht nur in der Szene.

Jetzt sind die Männer die Betroffenen, die von den Frauen dominiert werden. Jetzt häutet sich das starke Geschlecht und schreibt gegen die zementierten heterosexuellen Herrschaftsverhältnisse an. Zumindest häufen sich die Veröffentlichungen, deren Tonfall bei so mancher Leserin für Déjà-vu-Erlebnisse sorgen dürfte, für die peinliche Erinnerung an die fast vergessene Selbstbestätigungs-Lektüre der Siebzigerjahre.

Thomas Hettches Romanheld Peter in „Die Liebe der Väter“ ist so ein Bekenner, ein zunächst still verzweifelter Vater ohne Sorgerecht (Tsp. vom 19. 8.), der sich mit Schuld- und Versagensgefühlen gegenüber der Tochter Annika plagt. „Du hast ein Kind, das du liebst, und man zwingt dich, bei allem, was ihm zustößt, hilflos zuzusehen. Das ist Folter.“ Die Wehrlosigkeit des Vaters schlägt in Hass auf die Mutter um, auch in Selbsthass – „Ich werde mir das nie verzeihen“ – und in Gewaltfantasien. Da duldet und leidet einer nicht länger, sondern beginnt sich zu wehren. Ein Opfer, aus dem es herausbricht.

Zwar betont Hettche, selbst Vater einer Tochter, dass sein Roman kein Pamphlet und die Geschichte nicht mit der seinen identisch sei. Aber er gab in Interviews nicht nur Auskunft über sein Buch, sondern auch zur aktuellen Änderung des Sorgerechts. „Die Liebe der Väter“ nennt er den „befreienden Abschluss einer langen Entwicklung“. Er habe die emotionale Gemengelage rechtloser Väter begreiflich machen wollen, die Ansammlung von Schuld- und Ohnmachtsgefühlen. Mit dem Roman hat er eigene, offenbar quälende Erlebnisse fiktionialisiert.

Klar, Belletristik ist oft genau das: Es gibt die Karl Mays und Helene Hegemanns, die den Wilden Westen oder das wilde Leben einfach erfinden, aber die literarische Verfremdung, Verdichtung und Überhöhung eigener Befindlichkeiten ist eine genauso bewährte Schriftsteller-Technik. Bei Hettche geschieht das Ich-Sagen obendrein in diesem etwas unangenehm wehleidigen Bekenntniston. Dann lieber Peter Wawerzineks Furor. In seinem Roman „Rabenliebe“ (Tsp. vom 18. 8.) schreibt sich der von der Mutter im Kleinstkindalter verlassene Sohn seinen Kummer wütend von der Seele. Eine Klageschrift, eine minutiöse Aufzeichnung der eigenen, flackernden Fieberkurve: Schmerz, Ohnmacht, Verzweiflung, Verratensein, Zorn. Er hat sich, sagt Wawerzinek, „den eigenen Lebensstoff in einem schmerzlichen Prozess abgerungen“.

Hier wie dort ist auf die Mutter kein Verlass. Entweder sie ist böse oder sie ist weg, beides ganz schlimm. In der Frauenliteratur der Siebziger wurden ähnlich die bösen Kerle verteufelt. Geschlecht ist wieder eine Kategorie.

Ich halte das nicht mehr aus und schreibe es auf. Der Jargon der Innerlichkeit lässt aufhorchen, der Trotz, mit dem das Unterlegensein und Ausgeliefertsein bei Hettche und Wawerzinek protokolliert werden. Jetzt helfe ich mir selbst, indem ich wie Richard Powers mein Genom entschlüsseln lasse und darüber schreibe. Oder, die deutsche Variante, indem ich Nabelschau betreibe und dem Leser mein Leid kundtue. Literatur als Kampfschrift, wie damals bei Erica Jongs „Angst vorm Fliegen“ oder beim Psychoanalyse-Kitschroman für die besonders Schüchternen, Marie Cardinals „Schattenmund“.

Immer öfter sind heute Kinder im Spiel, auch wenn andere Sujets im Vordergrund stehen. In Thomas Lehrs 9/11-Roman ohne Satzzeichen „September. Fata Morgana“ verlieren zwei Väter, ein deutscher Germanistikprofessor in Amerika und ein irakischer Arzt, ihre Töchter, der Professor bei den Anschlägen auf die Twin Towers, der Arzt bei einem Bombenattentat in Bagdad. Lehrs wucherndrhapsodischer Text verleiht allen vieren eine Stimme, es sind vier Ich-Perspektiven, Prosa wie Lyrik. Dabei sind die Passagen der Väter geprägt vom Trauma des Verlusts, von Trauer und Schuldgefühlen. Annäherung an das verlorene Kind – der Deutsche liest die Notizbücher der Tochter. Die jungen Frauen sind die Terror-Opfer, aber es sind die Männer, die sich quälen. Der Romanheld der globalisierten Welt ist ein Patchwork-Vater, ein familiär verbandelter, sich auch privat verantwortlich fühlender Mann.

Der neue Mann führt über seine Lehr- und Wanderjahre (und seine Angst vor der eigenen Bedeutungslosigkeit) penibel Buch. Es begann mit den leisen Seufzern der Männer in der Krise, etwa in Andreas und Stephan Leberts „Anleitung zum Männlichsein“ 2007 (und dem lauten Aufschrei Frank Schirrmachers, der vor einer neuen Medienmacht der Talkmasterinnen und Verlagschefinnen warnte). Während die berufstätigen Frauen sich selbstironisch als „Wir Alphamädchen“ oder „Die F-Klasse“ (Thea Dorn) charakterisierten, konnte der privat geforderte und verunsicherte Mann zu einem der zahlreichen Vater-Bücher greifen. Anders als die alten Mütter drängte es viele neue Väter, ihr Elterndasein auch literarisch zu verwerten. Neben der Sachbuch- und Ratgeberflut von „Aus Männern werden Väter“ bis „Wickelpedia“ häuften sich Väter-Kolumnen, Romane und Filme über Glück und Leid mit den Lieben zu Hause.

Der Aufschrei der Männer, dass ihnen die Teilhabe verwehrt wird, gehört wie das Elterngeld schlicht dazu, wenn die Geschlechter einander ebenbürtig sein sollen. Er ist nicht neu, aber er differenziert sich allmählich aus. Die Welt wird männerfeindlich, schimpfte Matthias Matussek 1998 in „Die vaterlose Gesellschaft“, es folgten Dani Levys Kinofilm „Väter“ (2002) und Douglas Wolfspergers erschütternder Dokumentarfilm über den auf immer verwehrten Kontakt zur Tochter, „Der entsorgte Vater“ (2009).

Die Scham ist vorbei. Die Männer von heute betreiben öffentliche Selbstanklage, Selbstbehauptung, Selbstverteidigung, Selbstbefreiung. Das ist eine gute Nachricht: Die schlichte Existenz dieser Ich-Literatur beweist, dass sich zwischen Männern und Frauen, Vätern und Kindern, Beruf und Familie, Politik und Privatleben tatsächlich Wesentliches verändert hat. Auch Männer haben jetzt Frauenprobleme und wagen sich aus der Deckung. Der kleine Unterschied, um Alice Schwarzers Kultbuch-Titel aus den Siebzigern zu zitieren, er wird immer kleiner.

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