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Kultur: Literatur-Nobelpreis: Der Seelenbergsteiger

Ach, werden manche die Entscheidung der Stockholmer Akademie abtun: ein Dissident, ein Gegner des chinesischen Regimes, ein Mann für das moralische Gewissen. Keiner dieser Begriffe trifft auf Gao Xingjian zu.

Von Gregor Dotzauer

Ach, werden manche die Entscheidung der Stockholmer Akademie abtun: ein Dissident, ein Gegner des chinesischen Regimes, ein Mann für das moralische Gewissen. Keiner dieser Begriffe trifft auf Gao Xingjian zu. Mit dem 60-jährigen Erzähler, Dramatiker, Theaterregisseur und Maler erhält ein Künstler den Literatur-Nobelpreis, dessen politische Häresie eine unausweichliche Folge der ästhetischen ist.

Schon während seines Studiums hießen seine Helden Tschechow, Artaud, Ionesco und Beckett. Sein Theaterstück "Busstation" (1983) wurde oft als chinesische Paraphrase von "Warten auf Godot" bezeichnet. Obwohl all seine theatralischen Versuche politische Untertöne haben, so spiegeln sie doch eine existenzielle Erfahrung, deren absurde Grundierung mit Lebenswut einhergeht. Wenn Xingjian eine Wahl zwischen der Rettung des Individuums und der Rettung der Gesellschaft treffen müsste, würde er sich immer für die Freiheit des Einzelnen entscheiden. So muss man auch sein 1990 entstandenes Drama "Die Flucht" lesen, in dem sich, begleitet vom Schlachtenlärm des Massakers auf dem Pekinger Tiananmenplatz, ein junger und ein alter Mann und eine Frau in einer Hütte verkriechen. Nicht einmal eine Notgemeinschaft ist zwischen ihnen möglich. Xingjian verachtet die chinesische Autokratie und hat öffentlich geschworen, sein Land nicht mehr zu betreten, solange dort eine tyrannische Regierung an der Macht sei.

Seit 1987 lebt er in Frankreich, dem Land, dessen Sprache er studiert hat und in der er mittlerweile (auch) schreibt. Schon zuvor war er in Deutschland zu Gast, zu dem er wegen seiner Verehrung für Bertolt Brecht eine besondere Beziehung hat. Auf Einladung des DAAD verbrachte er 1985 ein halbes Jahr in Berlin, wo man von ihm Tuschzeichnungen und sein Einmannstück "Selbstgespräch" (siehe Auszug) sehen konnte - dem Beginn einer Reihe von deutschen Kontakten, die ihn zuletzt im vergangenen Januar nach Heidelberg führten. Bei einem Workshop stellte Xingjian sein Theaterkonzept vor, das sowohl Züge des Zenbuddhismus wie des avantgardistischen Theaters trägt.

Gao Xingjian stammt aus Ganzhou in der Provinz Jiangxi, wo er am 4. Januar 1940 als Sohn eines Bankangestellten und einer ehemaligen Schauspielerin zur Welt kam. Zusammen mit seinem jüngeren Bruder, der als Komponist in Nanjing lebt, wuchs er in einer liberalen, westlichen Ideen aufgeschlossenen Atmosphäre auf - bis der Maoismus in alle Lebensbereiche vordrang und mit der Kulturrevolution auch von ihm seinen Tribut forderte. 1970 wurde er zur Umerziehung auf eine Farm verschickt. Er schrieb heimlich und konnte erst 1975 nach Peking zurückkehren: Das Regime brauchte seine Sprachkenntnisse. Seine Literatur und seine Übersetzungen (u. a. von Jacques Prévert und Alain Robbe-Grillet) brauchte es nicht. Xingjians Arbeiten wurden nicht oder nur zögerlich veröffentlicht. Das Zerwürfnis war unausweichlich.

Xingjians Hauptwerk liest, den Roman "Der Berg der Seele" (als "The Soul Mountain" auf Englisch bei Flamingo erhältlich), legt davon Zeugnis ab. Das Buch ist das Ergebnis einer doppelten Krise. 1982 wurde bei Xingjian - fälschlicherweise - Lungenkrebs diagnostiziert. Gleichzeitig warf ihm die Kommunistische Partei wegen seines "Ersten Essays über die Techniken des Modernen Romans" (1981) vor, "geistige Verseuchung" zu betreiben: Xingjian hatte darin die Verfahrensweisen des nouveau roman untersucht. Der Autor flüchtete und begab sich auf eine fünfmonatige Reise durch das Landesinnere, den Yangtse hinunter. Er begegnete Mönchen und Einsiedlern, lernte ein China kennen, das die moderne Zivilisation verabscheute und in dem Banditentum und Vergewaltigung an der Tagesordnung waren. "Der Berg der Seele" ist der literarische Bericht von dieser Reise: ein zwischen den Genres hin- und herspringengendes Werk, in dem Stream-of-consciousness-Passagen neben Reportageelementen und philosophischen Abhandlungen stehen. Der Erzähler wird von einer imaginären Geliebten begleitet, die ihn zu aggressiven Sexfantasien inspiriert. Diese Fantasien haben nicht nur chinesische Leser verschreckt, sondern auch westliche Lesern dazu gebracht, Xingjian der Menschenverachtung zu bezichtigen.

Man kann ihm nur wünschen, dass zur Überprüfung seiner literarischen Statur dieses Buch bald auf Deutsch erscheint. Bis auf das Drama "Ja oder/und Nein" (projektverlag Bochum) sind alle Titel vergriffen.

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