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Geboren im nordchinesischen Jinzhou, wohnhaft in Boston. Ha Jin.

© Sören Stache/Arche Literatur Verlag

Literatur und Migration: Sicher stehen im Bodenlosen

Der chinesisch-amerikanische Schriftsteller Ha Jin untersucht in seinem Essayband "Der ausgewanderte Autor", was es heißt, in der Fremde eine literarische Sprache zu entwickeln.

Schriftsteller seien „Chronisten“, heißt es oft. Aber eine Chronik ist noch keine Literatur. Deshalb stellt der chinesisch-amerikanische Autor Ha Jin seinen Kollegen eine andere Aufgabe: Formbewusste „Alchemisten historischer Erfahrungen“ sollen sie sein. Denn es gebe zu viele politische Desaster und Völkermorde, die im kollektiven Gedächtnis verblassen, weil niemand ein bedeutendes Erzählwerk über sie verfasst habe.

Ha Jin, geboren 1956, wurde mit 14 Jahren, zur Zeit der Kulturrevolution, Soldat, und ging 1985 zum Studium in die Vereinigten Staaten, wo er nach dem Massaker am Tiananmen-Platz auf Dauer blieb. Erst in den USA begann er – auf Englisch – zu schreiben und erregte schon mit seinem zweiten, sowohl mit dem National Book Award wie dem PEN/Faulkner Award ausgezeichnten Roman „Warten“ (1999) landesweit Aufsehen. Heute unterrichtet er Englische Literatur an der Boston University. Sein Essay „Der ausgewanderte Autor“ ist die Standortbestimmung eines Bodenlosen – reizvollerweise in der Auseinandersetzung mit berühmten Autoren der Emigration.

Wenn Ha Jin beteuert, dass die soziale Rolle des Schriftstellers zweitrangig sei und es vielmehr darauf ankomme, „bleibende Werke“ zu schaffen, dann mag das (Juli Zeh oder Günter Grass ausgenommen) eine Binsenwahrheit sein. Sie wird aber leicht verschmäht von Autoren im Exil, die sich – ungehört mit ihren Werken – als Sprecher ihrer Heimatländer verstehen oder in diese Rolle gedrängt werden. Sie verschafft ihnen einerseits Aufmerksamkeit (zumindest wenn ihre Heimatländer gerade im Gespräch sind), verzögert andererseits aber ihre literarische Ankunft im neuen Land.

Solschenizyn etwa wartete zwei Jahrzehnte in den Vereinigten Staaten den Niedergang des Kommunismus ab, vermied es, amerikanischer Staatsbürger zu werden (den Termin des feierlichen Eids auf die Verfassung sagte er wegen „Unpässlichkeit“ ab), bis er schließlich in die Heimat zurückzukehren konnte. Wo sein christlicher Patriotismus dann auf ziemlich taube Ohren stieß.

"Exil" und "Emigration": auratische Begriffe in der Literatur

„Exil“ und „Emigration“ sind auratische Begriffe für die Literatur des 20. Jahrhunderts, denen die Mahnung an vielfältige Verfolgungen und Vertreibungen eingeschrieben ist. Nicht nur das Beispiel Solschenizyns zeigt aber, dass der Heroismus des Exils in der Gegenwart einiges an Strahlkraft verloren hat. Der emigrierte Autor muss aufpassen, dass er nicht durch seine hervorgekehrte „Heimatbindung“ Anstoß erregt, denn solche Bindungen werden zunehmend als unzeitgemäß angesehen in einer globalisierten Welt, in der interkontinentale Lebensstile verbreitet sind und kaum noch jemand dort alt werden möchte, wo er geboren wurde.

Wer der verlorenen Herkunftswelt nachtrauert, wird leicht zum Narren der Nostalgie. Ha Jin zitiert Salman Rushdie: „Um zu erklären, warum wir an unserem Geburtsort hängen, geben wir uns als Bäume aus und sprechen von Wurzeln. Schauen Sie unter Ihren Füßen nach. Sie werden keine knorrigen Wurzeln sehen, die aus den Sohlen sprießen.“

Der heutige Exilant hat wenig Scholle unter der Sohle und bekennt sich selbstbewusst zur Wurzellosigkeit. Es klingt allerdings nach einer Schriftstellerkongressfloskel, wenn Ha Jin versichert, dass die wahre Heimat allein in der Sprache liege, was er immerhin mit einer schönen Passage aus Milan Kunderas Roman „Die Unwissenheit“ belegt: Zwei Liebende finden im dirty talk der lange nicht verwendeten Muttersprache ihre Herkunftswelt wieder; Heimat, so die typische Kundera-Pointe, kann mit der passenden Frau jedes Hotelbett sein.

Nostalgie ist Kunderas Erzähler verdächtig. Womöglich habe sie etymologisch weniger mit dem griechischen Wort „nostos“ (Rückkehr) zu tun als mit dem lateinischen Verb „ignorare“ (nicht wissen). Rückkehr erweist sich als Chimäre, wie schon die Odyssee und viele ihrer späteren Variationen (Ha Jin bezieht sich auf Joyce, Tennyson und Kavafis) zeigen: Kaum ist der listenreiche Irrfahrer wieder im heimischen Ithaka angelangt, kaum hat er die frechen Freier zur Strecke gebracht und Penelope in die Arme geschlossen, da fällt ihm auch schon die Decke auf den Kopf. Das Fernweh möchte ihn wieder forttreiben; das reale Ithaka entspricht nicht mehr dem Sehnsuchtort, den er all die Jahre im kernigen Herzen getragen hat.

Was, wenn die Heimat der Sprache verloren geht?

Und was, wenn auch die Heimat der Sprache unsicher wird oder verloren geht? Im Zentrum des Essays steht das Nachdenken über die „Sprache des Verrats“. Der Romancier Ha Jin schreibt auf Englisch, seine Leitfiguren sind Joseph Conrad und Vladimir Nabokov. Wenn Schriftsteller im Exil die Sprache wechseln, wird ihnen das von der Heimatfront schnell zum Vorwurf gemacht, als handelte es sich um die Abwanderung einer hochqualifizierten Arbeitskraft. Conrad wurde von patriotischen Polinnen angefeindet. Für Nabokov war der Wechsel ins Englische ein Akt der Souveränität. Hohn und Spott über die „brutale Farce totalitärer Staatswesen“ ist ein Grundmotiv seiner Werke, und folgerichtig verließ er auch sprachlich den sowjetischen Herrschaftsbereich. Zugleich aber war der literarische Sprachwechsel für ihn eine Qual, „etwa so, wie wenn man bei einem Explosionsunglück sieben oder acht Finger verloren hat und jetzt alle täglichen Handgriffe neu erlernen muss.“

Interessant ist Ha Jins Beobachtung, dass sich sowohl Conrad wie Nabokov schwer taten mit natürlich klingenden Dialogen im Englischen (dazu gehört offenbar die tiefe Vertrautheit mit der gesprochenen Sprache), diese Schwäche jedoch durch „kraftvolle Syntax“ und verfeinerte Beschreibungskunst kompensierten. Nabokov liebte darüber hinaus den Humor und Wortspiele, die gerade von der Spannung zwischen den Sprachen profitieren. Das beste Beispiel ist der Roman über den kahlköpfigen Professor Pnin, der sein geliebtes, im Kalten Krieg aber kaum noch nachgefragtes Russisch an einem amerikanischen Provinzcollege unterrichtet, eine melancholische Existenz zwischen den Kulturen. Mit folgenden Worten bittet er ein paar Gäste in sein bescheidenes Domizil: „Also ergreife ich die Gelegenheit, Ihnen eine herzliche Einladung auszusprechen, mich heute Abend zu besuchen. Halb neun postmeridian. Eine kleine Hauserhitzungssoiree, mehr nicht.“ So wird sprachliche Unsicherheit in literarische Pointen verwandelt.

Das zentrale Thema in „Pnin“ – und womöglich aller Literatur des Exils – ist der Verlust: Menschen, Länder, Wohnungen, alles flüchtig. Pnins Ehe ist gescheitert, seine Jugendliebe wurde im KZ ermordet, am Ende wird er auch seine Stelle am College verlieren. Und selbst von seinen Zähnen muss er Abschied nehmen; das Fremdheitsgefühl in der eigenen kahlen Mundhöhle, ohne die vertrauten Klippen der schadhaften Zähne, beschreibt Nabokov über eine halbe Seite so kunstvoll, dass die Zahnextraktion als Metapher der Emigration erscheint. Dann aber bekommt Pnin ein tadelloses amerikanisches Gebiss. Enthusiastisch empfiehlt er fortan jedem, sich die Zähne ziehen zu lassen. Heimat, so eine Schlussfolgerung Ha Jins, ist Ankunft – und Pnins strahlendes Gebiss setzt sie mit wunderbarer Komik ins Bild.

Ha Jin: Der ausgewanderte Autor. Über die Suche nach der eigenen Sprache. Aus dem Englischen von Susanne Hornfeck. Arche Verlag, Hamburg 2014.141 Seiten, 15 €.

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