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Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz.

© dpa

Literatur und Theater in der Krise: Wenn Kultur Müll ist

Auf Bühnen und in Büchern findet das Bildungsbürgertum schon lange nicht mehr das, was es früher erwartete. Verhunzung ist zum Prinzip erhoben worden. Über die Krise der Künste im Zeitalter von Events und Happenings. Ein Essay.

Hand aufs Herz – könnten Sie aus dem vergangenen Vierteljahrhundert ein Gemälde, eine Skulptur, ein Musikstück der E-Klasse, ein Gedicht oder ein Drama nennen, dessen Verschwinden Sie als schmerzlichen Verlust empfinden würden? Vielleicht ein paar Theaterstücke oder den einen oder anderen Roman, vermutlich nicht viel mehr. In dem Vierteljahrhundert davor sieht es schon besser aus: Paul Celan, Ingeborg Bachmann, Frisch und Dürrenmatt, die „Blechtrommel“ und die Großen des Auslands wie Beckett, um nur einige aus der Literatur zu nennen.

Kultur ist das, was übrig bleibt

Aber Musik und bildende Kunst? Viel Avantgarde, doch wenig, was auf CD oder Kunstdruckpapier in bürgerliche Haushalte gelangte. Ganz anders die erste Hälfte des Jahrhunderts. Sie ist übervoll von Hochkarätigem: Richard Strauss, Strawinsky, Schönberg, Hindemith, Picasso, Paul Klee, die Expressionisten, das Bauhaus, Thomas Mann, Kafka, Joyce, Rilke, Benn und Brecht: die Liste ließe sich um ein Vielfaches verlängern. Was ist der Grund für dieses Ungleichgewicht? Hat der Krieg den kulturellen Boden so vergiftet, dass nichts Großes mehr darauf gedeiht? Was ist überhaupt Kultur?

Wenn man den Begriff auf die zurückliegende Menschheitsgeschichte anwendet, ist die Antwort einfach: Kultur ist zuerst einmal das, was übrig geblieben ist, denn nur das kennen wir. Macht man das zum Kriterium, stellt sich die Frage, was von unserer eigenen Kultur übrig bleiben wird. Da wir in einer Konsumgesellschaft leben, die fast alles, was sie produziert, früher oder später durch Konsum vernichtet, wird von uns vor allem Müll zurückbleiben. Nicht vermüllbar sind nur wissenschaftliche Erkenntnisse, denn die werden von der Wissenschaft der nachfolgenden Generation absorbiert. Unser ökonomisches System ist so organisiert, dass wir die Welt durch Arbeit in Produkte und Entgelte zerlegen. Wenn die Entgelte nicht als Kaufkraft zur konsumptiven Vernichtung der Produkte eingesetzt werden, kommt der Produktionsprozess irgendwann zum Erliegen.

Es gibt aber auch heute noch Produkte, die nicht konsumiert, sondern dauerhaft aufbewahrt werden. Das sind neben Objekten, die mit privaten oder religiösen Emotionen besetzt sind, vor allem Kunstwerke. Deren Produktion setzt eine entsprechende Nachfrage voraus. Die scheint aber nur noch in kleinen Kreisen von Kennern zu existieren. In der bildenden Kunst sind es vor allem Sammler, denen es nicht selten mehr um den ökonomischen als den künstlerischen Wert geht. Da das Sammelwürdige immer nur die Spitze einer Wertpyramide darstellt, müssen auch Käufer da sein, die die Produkte der Basis erwerben. Sie sind eine aussterbende Spezies. Das Gleiche gilt für Musik und Dichtung. Auch hier ist die Kundschaft eine kleiner werdende Spitzengruppe. Man nennt sie „Bildungsbürgertum“, ein Wort, in dem oft mehr oder weniger Verachtung mitschwingt.

Der Titelheld bei „Macbeth“ wird von einer Frau gespielt, vorzugsweise nackt

Der Begriff „bürgerlich“ ist ein Popanz, auf den die einen eindreschen, während die anderen ihn zum Fetisch machen. Dabei sollte sich in einer Demokratie doch eigentlich jeder als Bürger verstehen. Das so genannte Bildungsbürgertum ist eine Bevölkerungsgruppe, die an etwas festzuhalten versucht, was Jahrhunderte lang einen gesellschaftlichen Wert darstellte, nämlich Kultur als Produktion und Pflege von nichtkonsumierbaren Gütern mit Ewigkeitswert.

Dass diese Gruppe kleiner wird, ist offensichtlich, denn sie findet schon lange nicht mehr das, was sie früher erwartete. Wer einst ins Theater ging, um „Macbeth“ zu sehen, muss heute damit rechnen, dass der Titelheld von einer Frau, vorzugsweise nackt, gespielt wird und der Text nur noch entfernte Ähnlichkeit mit dem Original hat. Zeitgenössische Musik wird als so ungenießbar empfunden, dass man sie im Konzertprogramm nach Sandwich-Art zwischen zwei Klassiker packen muss; und in einem Sammelband wie „Lyrik von jetzt“ (2003) findet sich kein einziges Gedicht, das im Gedächtnis des Lesers so hängen bleibt wie die Verse klassischer Anthologien. Absurderweise war eine Ausstellung von Gerhard Richter in Berlin ein Event, für das man zwei Stunden Schlange stehen musste, während zur gleichen Zeit in einer Kunsthalle in Nürnberg ein ganzer Saal mit großformatigen Bildern Richters gähnend leer blieb.

Die Dichtung ist nicht mehr die reiche Blumenwiese der Gesellschaft

Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz.
Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz.

© dpa

Events sind flüchtige Ereignisse, die genussvoll konsumiert werden. Ein Museumsbesuch ist dagegen die jederzeit wiederholbare Teilhabe an der aufbewahrten Kultur. Seit dem Aufkommen von Happenings rückte das Eventhafte immer mehr ins Zentrum heutiger Kultur und wird philosophisch von einer Ästhetik des Performativen hinterfüttert.

Die umsatzstärkste Sparte der Eventkultur ist der Sport. Was von ihm übrig bleibt, sind Erinnerungen an spannende Wettkämpfe und an Rekorde, die noch nicht geknackt wurden. Auch die beiden anderen umsatzstarken Sparten, der Film und die populäre Musik, leben mehr vom Event als von der Dauerhaftigkeit ihrer Erzeugnisse.

Wettbewerb ist das Grundprinzip der Biosphäre. Während aber in der außermenschlichen Natur der Wettbewerb durch Anpassung an die Umwelt gebremst wird, geht er bei den Menschen ungebremst weiter, da sie ihrerseits die Umwelt an ihre Bedürfnisse anpassen. Deshalb zieht sich hier das Feld unaufhaltsam auseinander. So wie auf ökonomischem Gebiet der Abstand zwischen den Reichen und den Armen stetig größer wird, so auf kulturellem der Abstand zwischen der Avantgarde und dem Rest der Gesellschaft. Um ihn zu verkürzen, gibt es drei Möglichkeiten: entweder die Spitzengruppe bewegt sich langsamer, das wäre Verzicht auf Kreativität, oder der Tross läuft schneller, das lässt sich nicht erzwingen. Also bleibt als Drittes nur die Überbrückung des Abstands durch Vermittlung.

Gerade hier liegt das Problem. Die klassischen Vermittlungsinstitutionen, Schule und Universität, tragen kaum noch zur Überbrückung bei. Die Schule ist so sehr mit elementaren Erziehungsaufgaben und der Vorbereitung auf die Berufsausbildung belastet, dass musische Bildung kaum noch stattfindet; und die Universität hat sich, wie die Spitzen aller übrigen Pyramiden im gesellschaftlichen Prozess, so weit von der Basis entfernt, dass sie diese überhaupt nicht mehr erreicht.

Meine eigene Zunft, die Literaturwissenschaft, trägt ein gerüttelt Maß Schuld daran, dass ihr Gegenstand, die Dichtung, nicht mehr die reiche Blumenwiese der Gesellschaft ist, sondern zur Arena eines akademischen Wettbewerbs wurde. Als ich selbst mit dem Studium begann, wurden prominente Literaturprofessoren wie Emil Staiger noch von Laien gelesen. Heute verstehen nicht einmal die Literaturstudenten die postmodernen Theorien, mit denen Literatur bearbeitet wird. Der Zwang zur wissenschaftlichen Profilierung hat dazu geführt, dass Schwerverständlichkeit zu einem Wettbewerbsvorteil geworden ist, mit dem Ergebnis, dass sich Literaturwissenschaftler mit einschüchterndem Jargon wie Silberrückengorillas auf die Brust trommeln und damit signalisieren: Ich bin der Größte.

Den gleichen kontraproduktiven Wettbewerb betreiben die Theater. Hier wird zwar nicht mit hochtrabendem Jargon imponiert, sondern mit der Übertrumpfung der Konkurrenz durch schockierende Neuheit. Doch die Wirkung ist die Gleiche, nämlich das Verprellen des traditionellen Publikums. Im 19. Jahrhundert versammelte sich die Avantgarde in Frankreich unter dem Banner épater le bourgeois, „den Bürger erschrecken“, und die Bürger ihrerseits gingen mit Regenschirmen auf impressionistische Bilder los.

Das tun sie heute Gott sei Dank nicht mehr. Doch das gleichgültige Schulterzucken, mit dem sie ihre Blumenwiese den Mandarinen eines mit Steurgeldern finanzierten elitären Kulturbetriebs überlassen, ist kaum besser. Längst tröstet sich eine wachsende Zahl abgehängter Bürger mit dem Rückzug in die Popkultur, die inzwischen nicht länger als minderwertig stigmatisiert ist. Hier dürfen sie guten Gewissens „abhängen“.

Die Popkultur ist ärmer an Kunstfertigkeit und kultureller Erinnerung

Wenn das Erscheinen des neuen Albums einer Rockgruppe in den Abendnachrichten mitgeteilt wird, braucht sich niemand mehr zu schämen, wenn er sich lieber von einem Popkonzert unterhalten lässt als von einer in der Regel verhunzten Shakespeare-Komödie. Wie konnte Verhunzung überhaupt zum Prinzip des heutigen Regietheaters werden, während doch das Publikum der klassischen Musik auf dem Gegenteil, auf absoluter Werktreue besteht?

Das lässt sich wohl nur so erklären, dass die Sprache der Literatur ein Medium ist, in dem sich alle tummeln, während die Sprache der klassischen Musik nur von einer Bildungselite verstanden wird, die ihr Privileg hartnäckig verteidigt. Das Konzertpublikum erwartet Musik, die den hohen Ansprüchen genügt, die sich durch Tradition entwickelt haben. Das Theaterpublikum dagegen will unterhalten werden.

Es wäre Zeit für eine neue Renaissance

Die Kriterien dafür sind Neuartigkeit, der Reiz des Schockierenden und vor allem der ansteckende Beifall eines Massenpublikums, also das, was die Trivialisierung unserer gesamten Alltagskultur unaufhaltsam vorantreibt. Deshalb wird auch die Bastion der klassischen Musik allmählich wie Polareis wegschmelzen. Weggeschmolzen ist bereits die Basis der Musik, das Volksliedgut, das heute kaum noch ein Schulkind kennenlernt.

Hier stellt sich die heikle Frage: Ist zeitgenössische Popkultur nicht authentischer als Volkslieder, denen seit der NS-Zeit das Stigma des Völkischen anhaftet? Und ist sie nicht lebendiger als die im Grunde abgestorbene und nur mit hohem Subventionsaufwand künstlich am Leben erhaltene Klassik?

Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz.
Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz.

© dpa

Vielleicht ist sie beides, auf jeden Fall aber ist sie ärmer, und das in zweifacher Hinsicht: ärmer an Kunstfertigkeit und ärmer an kultureller Erinnerung. Es wäre eigentlich an der Zeit, dass nach den vier oder fünf Renaissancen, die es im Abendland gegeben hat, eine neue käme, die die ungebremst davon galoppierende Avantgarde wieder an die Tradition bindet. Das umstrittene Buch „Der Kulturinfarkt“, das vorschlug, die Hälfte aller Kultureinrichtungen abzuschaffen und stattdessen die verbleibende Hälfte besser zu fördern, legte den Finger auf die Wunde, wollte sie aber mit der alten Salbe kurieren.

Was nützt die Förderung von Eliteuniversitäten, Eliteorchestern und Elitemuseen, wenn diese Spitzen sich im Rennen immer weiter vom Tross entfernen? So wie die allgemeinen Bildungsprobleme nicht bei den Eliteuniversitäten, sondern im Kindergarten angepackt werden müssten, so muss die kulturelle Bildung dort ansetzen, wo der abgehängte Bürger das Rennen aufgegeben hat. Das A und O der Kulturpflege muss deshalb die Vermittlung sein: zum einen zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zum anderen zwischen der kreativen Spitzengruppe und dem Rest der Gesellschaft. Und die Literaturwissenschaftler sollten sich bewusst machen, dass es die Literatur auch ohne sie gäbe, aber nicht ohne ein literarisch interessiertes Publikum.

Der Autor ist emeritierter Professor für englische Literatur und Landeskunde an der Freien Universität Berlin.

Hans-Dieter Gelfert

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