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Literatur: Was Lesen mit uns macht: Orhan Pamuk in Berlin

„Was mein Dasein als Leser angeht,“ hat Orhan Pamuk einmal in einem kleinen Aufsatz über das Lesen geschrieben, „so muss ich feststellen: Wenn Fernsehen, Kino oder andere Medien imstande gewesen wären, mich genauso in andere Welten zu versetzen und mir genauso viel Weltwissen zu vermitteln wie Bücher, dann hätte ich wohl weniger gelesen.“ Dem war aber gerade in seinen jungen Jahren in Istanbul nicht so, weshalb der Literaturnobelpreisträger, ausgehend von seinen Leseerfahrungen und Friedrich Schillers Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung“, im letzten Jahr in Harvard für eine sechsteilige Vorlesungsreihe über das Lesen und Schreiben von Romanen gewonnen wurde.

„Was mein Dasein als Leser angeht,“ hat Orhan Pamuk einmal in einem kleinen Aufsatz über das Lesen geschrieben, „so muss ich feststellen: Wenn Fernsehen, Kino oder andere Medien imstande gewesen wären, mich genauso in andere Welten zu versetzen und mir genauso viel Weltwissen zu vermitteln wie Bücher, dann hätte ich wohl weniger gelesen.“ Dem war aber gerade in seinen jungen Jahren in Istanbul nicht so, weshalb der Literaturnobelpreisträger, ausgehend von seinen Leseerfahrungen und Friedrich Schillers Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung“, im letzten Jahr in Harvard für eine sechsteilige Vorlesungsreihe über das Lesen und Schreiben von Romanen gewonnen wurde. „What happens to us as we read novels“ hieß der erste Vortrag, und diesen hielt Orhan Pamuk nun auch im Rahmen der Mosse-Lectures am Donnerstagabend im überfüllten, von den Studenten weiterhin besetzten Audimax der HU.

„Romane sind Träume“, hebt Orhan Pamuk an, nachdem er mit seiner Digitalkamera noch schnell einen Schnappschuss von seinem Publikum gemacht hat. Einen Roman zu lesen sei, als betrachte man ein Landschaftsgemälde. Immer wieder setzen wir das Gelesene in Bilder um und sehen dabei die Welt mit den Augen des Erzählers und der der Protagonisten. Pamuk erörtert, was Romane in uns auslösen, wie sie unsere Gedanken und Gefühle beeinflussen, unser Leben, wie die Leseumstände mit der Lektüre verschmelzen, was wir suchen, wenn wir einen Roman lesen: dessen Zentrum, um darüber wiederum zu der Bedeutung unseres eigenen Lebens vorzustoßen.

Das alles hat mitunter etwas Selbstverständliches, ist dann wieder luzide, wenn Pamuk etwa mit Schiller den naiven und den sentimentalen, seiner Lesart nach reflektierten Leser unterscheidet; zwischen dem Leser, der bevorzugt am Fortgang der Handlung interessiert ist, und jenem, der Stil, Sprache und literarische Struktur zu goutieren weiß. Nicht zuletzt stellt diese Vorlesung eine Art Werbung fürs Lesen von Romanen dar, für Bücher überhaupt: Lesen bildet, Lesen verschafft Glücksgefühle, Lesen verändert, Lesen vermag Charaktere zu formen. Und das wiederum ist Balsam für geschundene bildungsbürgerliche Seelen, die zum einen miterleben müssen, dass Lesen gerade unter Jüngeren nicht mehr als allerletzter Schrei gilt, dass diese sich lieber von den neuen Medien in andere Welten versetzen lassen. Und die zum anderen gelegentlich hören, dass Fiktionen nicht mehr in der Lage seien, Welterklärungsmodelle zu liefern, Weltwissen, tiefere Wahrheiten.

Es versteht sich, dass Pamuk als schreibender Wanderer zwischen Orient und Okzident, zwischen Tradition und Moderne, zwischen Istanbul und New York, als „Meister der Doppelungen“, wie ihn Joseph Vogl von der HU in seiner Einführung bezeichnet, später bei seiner Unterscheidung zwischen dem naiven und dem reflektierten Romanschreiber für sich in Anspruch nimmt, beides zu sein; und es versteht sich, dass er im Anschluss an seine Vorlesung, als ihn der an der New Yorker Columbia University lehrende Literatur- und Komparatistikprofessor Andreas Huyssen zu seinem jüngsten Roman „Museum der Un- schuld“ vor dem Hintergrund des Gehörten befragt, gut gelaunt ausweicht oder schlicht auf die „Inspiration“ verweist.

Geduldig lächelnd hört Pamuk sich an, dass das Zentrum von „Museum der Unschuld“ die Liebesgeschichte sein könnte. Dass sich später aber Istanbul in den Vordergrund schiebe. Pamuk lässt beides gelten und rät mit Tolstoi: Wenn eine Figur zu böse geraten sei, statte sie vorteilhafter aus, und umgekehrt; wenn ein Roman zu sehr „Finnegans Wake“ gleiche, mache ihn klarer, verständlicher. Und er antwortet auf die Frage, warum er sich selbst ins Romanspiel gebracht habe: „Ich brauchte noch eine andere Perspektive.“

Am Ende, als er noch ein Stück seines Romans auf Türkisch gelesen und weitere Fotos vom Auditorium (und von sich) gemacht hat, weiß man: Der Schriftsteller Orhan Pamuk kann nicht nur belehren und inspirieren, sondern auch unterhalten. Gerrit Bartels

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