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80. Geburtstag: Milan Kundera: Ende der Verzweiflung

In ganz Europa zu Hause: Dem Schriftsteller Milan Kundera zum 80. Geburtstag.

Von Gregor Dotzauer

Er war schon eine Art Migrant, bevor er 1975 die Tschechoslowakei in Richtung Frankreich verließ. Was dabei selbst gewählte Flucht und was erzwungene Vertreibung war, lässt sich bei Milan Kundera schwer auseinanderhalten. Denn der Romancier, als der er sich heute allein verstanden wissen will, hat noch ein Gedichte, Essays und Stücke schreibendes Alter Ego, das er gern verleugnet.

Sein schriftstellerisches Ich, so sagt der heute vor 80 Jahren in Brünn geborene Sohn eines Musikkonservatoriumsrektors und Janámek-Schülers, habe er überhaupt erst 1959 mit der Erzählung „Ich, der traurige Gott“ gefunden. Es dauerte dann aber noch acht Jahre, bis „Der Scherz“ den Auftakt zu einer epischen Tetralogie bildete, in der er seinen mit essayistischen Einsprengseln arbeitenden Stil entwickelte, den er lange vor seinem Welterfolg „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ (1984) zur Meisterschaft führte.

Der 18-jährige Prager Student, der mit wehenden Fahnen der KP beitrat, wurde schon nach kurzer Zeit wegen individualistischer Tendenzen aus der Partei ausgeschlossen und von der Karls-Universität relegiert. Eine zweite, längere Affäre mit der Partei endete, nachdem er zu den schreibenden Protagonisten des Prager Frühlings gehörte, 1968 mit der Entlassung von der Filmhochschule, an der er Weltliteratur lehrte, und einem Publikationsverbot. Und der tschechische Erzähler wurde ein französischer, als er 1993 mit „Die Langsamkeit“ den ersten von mittlerweile drei in seiner Exilsprache geschriebenen Romanen veröffentlichte.

Es gibt also mehrere einander überlagernde und aufeinander folgende Kunderas – und einen, der sich schon zu Prager Zeiten mit seiner Bewunderung für Rabelais, Diderot und Montaigne, Baudelaire und Apollinaire, Broch und Musil in einem gesamteuropäischen Kontext zu Hause fühlte. Gut möglich, dass die letztjährigen Vorwürfe, er habe als 20-Jähriger einen tschechischen Westagenten an die Polizei verraten, einen Kundera betreffen, der die Erinnerung an jene Zeit abgelegt und einem anderen, der er einmal war, überlassen hat.

Der, zu dem er sich als Erzähler stilisierte und dessen Bücher vielleicht mehr von Liebe, Treue und Verrat wissen als ihr Autor, hat sein Heraustreten aus der tschechischen Nationalliteratur mit dem Neid vieler Landsleute bezahlt, dafür aber die Freundschaft von großen Kollegen in aller Welt gewonnen. Louis Aragon und Eugène Ionesco, Carlos Fuentes, John Updike und Philip Roth, mit dem er einige Männerfantasien teilt, haben sich für seine Romane stark gemacht.

Der kanadische Literaturwissenschaftler François Ricard hat nun einen Essay vorgelegt, der ganz aus dem Inneren dieses Werks heraus seine um Kampf und Exil kreisende Einheit darzustellen versucht und sich dabei mit allen Vor- und Nachteilen an das anschmiegt, was Kundera selbst von sich preisgibt. „Zwischen der Poesie des Herzens und der entgegenstehenden Prosa der Verhältnisse“, wie Hegel in seinen „Vorlesungen über die Ästhetik“ die Antriebskraft des Romans charakterisiert, geht Ricard den Spannungen nach, die Kundera durch seine Friktionen mit dem kommunistischen System vielleicht deutlicher spürte als seine westeuropäischen Kollegen.

„Dichter sein heißt / bis ans Ende gehen“, schrieb Kundera in einem frühen Gedicht. „Ans Ende der Zweifel / ans Ende der Hoffnungen / ans Ende der Leidenschaft / ans Ende der Verzweiflung.“ Es wäre interessant zu erfahren, wie sich der Romancier von dem Ende aus, von dem er heute auf diesen Anfang zurückschaut, in dieser Hinsicht einschätzen würde.

François Ricard: Agnes’ letzter Nachmittag. Milan Kundera und sein Werk. Aus dem Französischen von Uli Aumüller. Hanser, München 2009. 188 Seiten, 19,90 €.

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