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Literatur: Ach, wie viel Deutschheit

Schatzkästlein oder Mogelpackung? Unbekannte Geschichten von Johann Peter Hebel

Im literarischen Weltgebäude des Gymnasialprofessors, Kirchenrats und Kalendermachers Johann Peter Hebel (1760–1826) suchen bis heute viele begeisterte Leser Unterschlupf. Von der zarten Empirie seiner Kalendergeschichten sind wir immer noch so angerührt wie einst Walter Benjamin und Ernst Bloch, die das „Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes“ als „Knigge für Heilige“ und als „Handorakel der Lebensklugheit für kleine Leute“ anpriesen. Religiöse Erbauungsgeschichten findet man hier neben „gräulichen“ Anekdoten, in denen sich die Spezies Mensch gegenseitig mit schlimmsten Grausamkeiten zusetzt. Dabei findet man die Moral dieser Gauner-, Vaganten- und Spitzbubengeschichten nicht immer dort, wo man sie bei einem evangelischen Kirchenrat eigentlich erwarten dürfte.

Die historisch-kritische Hebel-Ausgabe des Stroemfeld-Verlags hat seit 1990 sämtliche Erzählungen und Gedichte des Autors ediert; die Kommentarbände dazu sind freilich noch nicht abgeschlossen. Als beglückende Sensation wird nun ein Fund von zwei Dutzend „unbekannten Geschichten“ Hebels annonciert, die der Literaturwissenschaftler Heinz Härtl in einem schmalen Bändchen zusammengestellt und kommentiert hat. In zwei vergessenen Zeitschriften des 19. Jahrhunderts, dem „Provinzialblatt der Badischen Markgrafschaft“ von 1805 und dem „Preussischen Volksfreund“ von 1842, hat Härtl anonym publizierte Texte entdeckt, die in der Manier Hebels von unerhörten Begebenheiten, wundersamen Zwischenfällen und Unglücken erzählen.

Die Crux an diesen bislang unbekannten Hebel-Schätzen ist nun, dass ihr Entdecker keine stichhaltigen Beweise für die Autorschaft Hebels vorbringen kann, sondern sich auf eine Wahrscheinlichkeitsvermutung beruft. Als Indizienbeweis soll gelten, dass Hebel im besagten „Provinzialblatt“ als Verfasser anonymer Rätselverse aufgetreten ist und mit dem Verleger des „Provinzialblatts“, dem Karlsruher Buchhändler Christian Friedrich Müller, einige Jahre zusammengearbeitet hat. 15 Jahre nach dem Tod des Kalendermachers hat der „Provinzialblatt“-Verleger auch eine Hebel-Ausgabe auf den Weg gebracht.

„Welcher Karlsruher“, fragt nun Heinz Härtl in seinem Nachwort, „sollte 1805 ,Der edelmüthige Landmann’ geschrieben haben, wenn nicht Johann Peter Hebel?“ Tatsächlich ist der Hebel-Sound noch am ehesten in jener anrührenden Geschichte vom „edelmüthigen Landmann“ zu entdecken, der unter Einsatz seines Lebens die Familie eines von einer Überschwemmung bedrohten Brückenschreibers rettet. Auch im Fall des armen Schusters Flink, der seine kinderreiche Familie nicht mehr ernähren kann, sich aber selbst in aussichtsloser Lage von seiner Ehrlichkeit nicht abbringen lässt, lässt sich über eine Autorschaft Hebels spekulieren.

Aber es bleiben erhebliche Zweifel, ob Hebel als der Autor all jener „unbekannten Geschichten“ gelten kann, die im Bändchen gesammelt sind. Adrian Braunbehrens, der Mitherausgeber der „Sämtlichen Schriften“ Hebels, hat mittlerweile – nachzulesen auf der Website des Heidelberger „Instituts für Textkritik“ – vor dem „falschen Hebel“ der Wallstein-Edition gewarnt.

Laut Braunbehrens können nur zwei Stücke des Bändchens zweifelsfrei Hebel zugeordnet werden, die kurze Erzählung „Franziska“ und die Kinder-Rettungsgeschichte „Herr Charles“, die 1813 und 1814 im „Morgenblatt für Gebildete Stände“ erstmals publiziert wurden und der Hebel-Forschung auch bekannt sind. Die restlichen Erzählungen, so Braunbehrens, sind dem „geschätzten Volksdichter“ irrtümlich zugeordnet worden, wobei „Ansätze einer Hebel gänzlich fremden Deutschtümelei“ unübersehbar seien.

Tatsächlich irritieren hier die erzählerischen Fokussierungen auf das Attribut „deutsch“. Die Humanität der „deutschen Fürstin“, die sich für Arme einsetzt, und das Rechtsbewusstsein des „deutschen Kaisers Konrad“ – gehört es wirklich zu den Charakteristika des Kalendergeschichtenschreibers, dass er „ideale Wesenszüge von Deutschheit“ (Härtl) zeigen will? Eine öffentliche Debatte der widerstreitenden Hebel-Experten über solche Fragen ist bislang ausgeblieben. Zum Enthusiasmus, wie ihn Daniel Kehlmanns im Vorwort des Wallstein-Bändchens angesichts der „Auferstehung“ Hebels an den Tag legt, besteht vorerst kein Anlass.

Johann Peter

Hebel:
Der Schuster Flink. Unbekannte Geschichten. Vorwort von Daniel Kehlmann. Hg. von Heinz Härtl. Wallstein, Göttingen 2008. 96 Seiten, 18 €.

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