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Alfred Döblin: Mein großer Patron

Ingo Schulze rühmt den Stilreichtum seiner literarischen Leitfigur Alfred Döblin zum 50. Todestag des Romancier.

Herr Schulze, warum soll man Alfred Döblin heute lesen?

Wenn man etwas über die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts erfahren will, findet man bei ihm einfach alles. Es gibt keinen anderen Autor, der mit einem derartigen erzählerischen Reichtum und einer solchen Präzision und Schönheit aufwartet.

Wann haben Sie ihn für sich entdeckt?

1995 erhielt ich den Döblin-Förderpreis, mein erstes Buch war noch gar nicht erschienen. Katja Lange-Müller bekam den Hauptpreis, und zwei Jahre später war es an uns, die Rede auf den Döblin-Preisträger zu halten. Ich wurde sozusagen gezwungen, mich mit ihm zu beschäftigen und entdeckte schnell, dass er mit jedem Buch völlig neu ansetzt. Er verwendet immer einen anderen Blickwinkel, eine andere Stimme. Man lernt ja, ein Schriftsteller müsse eine eigene, unverwechselbare Stimme haben. Und dann sah ich: Bei Döblin ist das anders. In einem seiner Aufsätze stieß ich auf den entscheidenden Satz: Man muss den Stil aus dem Stoff kommen lassen. Das ist auch meine ureigenste Erfahrung.

Wie hat Döblin das geschafft?

Er sagt selbst an einer Stelle: Man muss eigentlich all die anderen Bücher mitkennen, um zu merken, wie spezifisch das eine Buch ist. Es gibt etwa den „Wallenstein“, einen historischen Roman, der mit sehr langen Sätze arbeitet, ein Werk, in dem es sehr barock zugeht. Der „Tod einer Butterblume“ ist ganz anders, man könnte jedes Buch als Beispiel nehmen. Dieses Immer-wieder-Neuansetzen, das ist für mich die große Leistung Döblins. Dass er sich Ereignissen zuwendet wie dem November 1918, ist ein Versuch, sich einen neuralgischen Punkt in der deutschen Geschichte zu greifen und diesen über vier Bände zu entwickeln – das halte ich für unglaublich. Und er konnte auch immer wieder neu anfangen, was bei bedeutenden Stilisten sehr schwer ist. Ein besonderer, eigener Stil wie bei Thomas Mann, Döblins großem Antipoden, taugt immer nur für eine bestimmte Zeit. Döblin versuchte auch in seinem Spätwerk mit dem „Hamlet“, 1946 beendet, noch einmal etwas Neues.

Dabei geht es aber nicht um Beliebigkeit.

 Es geht darum, näher an die Wirklichkeit heranzukommen. Es gibt viele Arten, das zu formulieren und dabei möglichst präzise zu sein. Den Stil aus dem Stoff zu entwickeln, heißt, dass Stil etwas Seismografisches hat. Ich glaube, dass Döblin selbst davon überrascht wurde, zu welchen Mustern er greift. Genau das finde ich interessant – diese Spannung zwischen dem Stoff und der Stimme, mit der man darüber spricht, und wie es verschmilzt und unauflösbar wird, so dass man Literatur gar nicht mehr über den Stoff definiert. Es ist dann ein Amalgam, auch wenn die Struktur nach wie vor eine entscheidende Rolle spielt.

Welches Werk Döblins ist für Sie von besonderer Bedeutung?

Wenn ich sage, dass Döblin mein „großer Patron“ ist, meine ich das erst einmal grundsätzlich. Es ist die Art und Weise, wie man zu schreiben versucht. Natürlich sind mir manche Bücher näher als andere. „Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine“ liebe ich zum Beispiel sehr. Das ist ein Roman über den Konkurrenzkampf, in dem ich meine eigenen Erfahrungen als kleiner Zeitungsverleger wiederentdeckte – bis hin zu dem schrecklichen Gedanken, seine Konkurrenten umbringen zu wollen. Dann natürlich „November 1918“. Auch „Berlin Alexanderplatz“ gehört dazu, ein paar theoretische Schriften, seine „Reise durch Polen“ finde ich wunderbar, die Kurzgeschichten und „Hamlet oder Die lange Nacht hat ein Ende“, in dem er so eine Bocaccio-Situation schafft.

Wie hat sich das in Ihren eigenen Büchern niedergeschlagen?

Wichtig ist mir vor allem Döblins Theorie der Episierung. Die hat Bertolt Brecht nicht auf dem Theater erfunden, sondern von Döblin aus der Prosa übernommen. Denken Sie nur an die Kapitel-Unterschriften bei „Berlin Alexanderplatz“ – in meinem Roman „Simple Storys“ habe ich mich stark darauf bezogen. Man baut damit einen Stolperstein gegen die Einfühlung ein.

Das Gespräch führte Ulrich Rüdenauer.

Ingo Schulze, 1962 in Dresden geboren, debütierte 1995 mit dem Roman, 33 Augenblicke des Glücks“. Zuletzt erschien von ihm der Erzählungsband Handy.

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