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AUFGESCHLAGEN ...: Denken Sie sich satt

Von Denis Scheck

Denis Scheck, Literaturredakteur beim Deutschlandfunk, bespricht einmal monatlich die „Spiegel“-Bestsellerliste, abwechselnd Belletristik und Sachbuch.

10) Marina Nemat: Ich bitte nicht um mein Leben (Deutsch von Holger Fock und Sabine Müller, Weltbild, 392 Seiten, 12,95 €)

Der Lebens- und Leidensbericht einer Frau aus dem Iran, die als junges Mädchen in das berüchtigte Evin-Gefängnis in Teheran gesteckt und dort von den Schergen des Mullah-Regimes gefoltert, gedemütigt und aufs abscheulichste drangsaliert wird. Weil Marina Nemat aber jeder Reflexionsrahmen fehlt, ihre persönliche Erfahrung in einen politischen und historischen Kontext zu setzen, ihr stattdessen fortlaufend wildfremde Menschen Sätze sagen wie „Mit dir kam Freude und Glück in mein Leben“ oder „Du bist die merkwürdigste Person, die mir je begegnet ist“, deshalb ist dieses Buch ebenso gefühlsduselig wie gedankenschwach.

9) Petra Gerster: Reifeprüfung (Rowohlt Berlin, 228 Seiten, 19,90 €)

Ein kurzweiliger Essay über die Ausgrenzung der Alten aus den Medien und das Faktum, dass in Deutschland zwar Wein und Autos älter werden dürfen, nicht aber Frauen. „Solange wir nur ganz wenige Frauen in Film und Fernsehen altern sehen, solange wir das Gefühl haben, ab fünfzig das eigene Haltbarkeitsdatum langsam zu überschreiten, so lange werden wir dem Jugendwahn mit allen seinen Folgen Vorschub leisten“, schreibt Gerster in ihrem lesenswerten Buch.

8) Veronika Peters: Was in zwei Koffer passt (Goldmann Verlag, 256 Seiten, 18 €)

Kein Futter für die Sensationsgier von Voyeuren gescheiterter Lebensträume, sondern eine nachdenkliche Bilanz über zwölf Jahre als Nonne liefert dieser autobiografische Bericht. „Ich habe diesen Ort geliebt“, so Veronika Peters über ihr Benediktinerinnenkloster. „Er war etwas Besonderes, auch wenn er nicht gehalten hat, was ich mir von ihm versprach.“ Peters’ Buch ist ebenfalls etwas Besonderes, das mehr hält, als es verspricht.

7) Ulrich Wickert: Gauner muss man Gauner nennen (Piper, 320 Seiten, 19,90 €)

„Auf der Suche nach Selbstbewusstsein trifft der Mensch häufig auf widerstreitende Gefühle.“ Wer anders als Ulrich Wickert traut sich, einen solchen Satz zu veröffentlichen? Wer hat den Mut, auf der empirischen Grundlage, dass Günter Grass beim WM-Halbfinale „einen Schal mit den deutschen Farben“ trug, einen Wandel in der deutschen Identität zu konstatieren? Ein Buch, so an- und aufregend wie eine Bundespräsidentenrede vor dem ADAC.



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