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Briefe: Liebe Cousine, bitte ganz unter uns

Diskret ist sie nicht. Aber bisweilen wird ihre Korrespondentin zum Schweigen ermahnt – wenn es um etwas geht, "was Mamas wegen unter uns bleibt": Briefe von Lea Mendelssohn Bartholdy.

Gewöhnlich sondert die Verfasserin dieser Briefe Klatsch über Gott, Welt, Kultur, Politik, Verwandte, Bekannte und Mode geistreichen ab. Am 26. Februar 1821 geht es unter anderem um Pariser Oberflächlichkeit, um Schwangerschaft, um die Generalprobe des „Alexanderfests“ von Händel, um das Regiment des Generalmusikdirektors Spontini, um den Maskenball des Königs und das Schauspielhaus: „Der neue Koncert- und Ballsaal vereinigt an Pracht und Eleganz alles, was man sich vorstellen kann.“ Und um Sohn Felix, dem zum 11. Geburtstag die Hausaufführung eines selbst gemachten Singspiels unter Mitwirkung von Musikern der königlichen Kapelle („der bejahrte Kontrabassist weinte seine hellen Thränen“) geschenkt wurde, weshalb „das schöne Kind mit den Raphaelslocken“ selbst dirigieren sollte. „Am meisten ergötzte es ihn, daß ich seinen Wunsch erfüllte, und ihm ein paar stimmbare Pauken geschenkt hatte …“

122 solcher sprudelnd geschwätzigen, gebildeten, ironisch überschwänglichen, pointiert polyglotten Briefe hat Lea Mendelssohn Bartholdy (1777–1842), Enkelin des Berliner Hoffinanziers Itzig, von 1809 bis 1842 an ihre Wiener Cousine Henriette von Pereira Arnstein geschickt; so viele sind zumindest erhalten.

Die Publikationsgeschichte ist kompliziert. 1950 lernt Rudolf Elvers, der Doyen der Mendelssohn-Bartholdy-Forschung, Nachfahren der Geschwister Fanny und Felix in Franken und in der Schweiz kennen. 1960 erhält er Abschriften eines Teils der Cousinenbriefe von einer Urenkelin des Felix-Bruders Paul. 1964 wurde er Leiter des Mendelssohn-Archivs in Berlin. Vom S.-FischerVerlag, der die Biografie Fanny Arnsteins, der Mutter Cousine Henriettes, veröffentlicht hatte, werden ihm 1983 Mikrofilmkopien aller Autografen zugespielt. Manche Postillen, wegen des teuren Portos winzig eng beschrieben, erreichen einen Umfang von zwölf Seiten.

Er beginnt mit der Transkription, ab 1991 unterstützt durch Wolfgang Dinglinger, den heutigen Dekan der Musikfakultät der Berliner Universität der Künste. 2005 werden die Autografe aus Privatbesitz in Östereich an die Staatsbibliothek verkauft, was nun die Edition ermöglicht. Das kommentierte opus magnum der beiden Musikwissenschaftler, dessen Stammtafeln man freilich auch publikumsfreundlich hätte gestalten dürfen, dürfte nun zur Standardquelle der Mendelssohn-Forschung werden – und zur Fundgrube für Zeitreisende überhaupt: 2500 Personen zählt das Register.

Die Cousinenbriefe der Lea Mendelssohn Bartholdy sind ein Denkmal der Familienbande, der Briefkultur, das Dokument einer wohl nur für drei Jahre, wegen erbschaftlichen Zoffs, unterbrochenen Frauenfreundschaft. Und der nachhaltige Beweis, dass zum Ausgraben solcher Geschichte(n) unbeirrbare philologische Leidenschaft gehört.

Lea Mendelssohn Bartholdy: „Ewig die deine“. Briefe an Henriette von Pereira-Arnstein. Hg. von W. Dinglinger u. R. Elvers. Wehrhahn Verlag, Hannover 2010.  2 Bde., 863 S., 49,80 €.

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