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Carsten Jensen: Umwege bei Sturm

Der Däne Carsten Jensen beschwört die Mächte des Krieges und der See.

Zwei unerbittliche Mächte bestimmen in diesem Roman über das Leben: das Meer und der Krieg. Den Tod bringen beide in das dänische Hafenstädtchen Marstal. Aber auch wenn seit jeher Schiffe den Hafen verlassen und seit jeher viele nicht zurückkehren, bleibt die Leidenschaft der Menschen für das Meer ungebrochen. Zumindest die der Männer. Das Leben der Frauen, die seit Generationen ihre Gatten und Söhne ans Meer verlieren, ist mit einem Schatten belegt. Das allerdings lässt keinen der heranwachsenden Jungen auch nur eine Sekunde daran zweifeln, dass die eigene Zukunft im Matrosendasein liegt.

Der Krieg scheint zunächst nur im Vorübergehen nach Marstal zu kommen. Im Jahr 1848 machen sich dänische Segelschiffe auf den Weg, um einen Konflikt mit den deutschen Nachbarn auszutragen. Die Truppen sind bunt zusammen gewürfelt, die Versorgung mit fester und flüssiger Nahrung ausgezeichnet – die Stimmung an Bord ist dementsprechend aufgekratzt. Erst als es zu Gefechten kommt, blitzt zwischen Eingeweiden und Leichenbergen für Momente das Grauen auf. Knapp 100 Jahre und gut 700 Romanseiten später liegen zwei weitere Kriege hinter den Marstalern, und was man schon 1848 über die brutale Sinnlosigkeit des Krieges zu ahnen begann, das hat sich mit den modernen Techniken des Zweiten Weltkriegs auf unheimliche Weise systematisiert.

Der Roman „Wir Ertrunkenen“ des dänischen Autors Carsten Jensen ist aber nicht nur eine düstere Erzählung über Modernisierung. Was Jensen über das Leben zwischen den Kriegen erzählt, ist ein Roman über Stürme, ferne Länder, Schatzkisten und Schrumpfköpfe, über Kannibalenstämme in der Südsee und das ewige Eis vor Grönland.

Jensen, der in Dänemark bereits zwei autobiografische Reisebücher veröffentlicht hat, erzählt über drei Generationen hinweg die Geschichte einer Stadt und ihrer Bewohner, zu denen auch seine eigene Familie gehört hat. Jensens Vater ist zur See gefahren. Aus dessen Berichten schöpft er sein Material. Es mag an der Unerschöpflichkeit dieser Geschichten, Anekdoten und Legenden liegen, dass Jensens Roman, auch wenn sein zeitlicher Rahmen klar gesteckt ist, kaum einer klaren Linie folgt.

„Es reicht nicht zu wissen, wohin Du willst, denn das Leben besteht wie der Kurs eines Segelschiffes fast nur aus Umwegen, für die mal Windstille und mal Sturm verantwortlich sind.“ Was Jensen hier als kleine Lebensphilosophie präsentiert, kann man getrost als poetologisches Prinzip verstehen. Wie die Figuren, die abwechselnd in den Fokus der Aufmerksamkeit treten, tun es auch die Themen und Motive, um die Jensens Erzählen kreist.

Da ist der Versuch der Frauen, ihr Schicksal zu durchbrechen: Klara, eine zu Wohlstand gelangte junge Witwe, macht sich daran, die Schiffe der Stadt zu verkaufen, um auf diese Weise das Leben vom Fluch der Seefahrt und des Untergangs zu befreien. Und immer wieder ist es die Frage nach der sozialen Solidarität, die durchgespielt wird und die sich am Modell des Schiffes veranschaulichen lässt: Nur wenn die Mannschaft eine Einheit bildet, kann sie sich gegen das allzu häufig willkürliche Regiment des Kapitäns zur Wehr setzen. Eine Solidarität, die sich bis in den Tod fortschreibt. „Mit Mann und Maus untergegangen“ – das ist die Formel, die über das Sinken eines Schiffes informiert. Im Tod gibt es keine Hierarchien mehr.

Jensen nimmt diese Solidarität so ernst, dass sie zur Grundmelodie seines Erzählens wird. Nicht zufällig heißt sein Roman „Wir Ertrunkenen“, denn dieses Wir ist es, das seine eigenwillige Erzählperspektive ausmacht. Wir, das ist der Chor der Ertrunkenen, den Jensen – wenn auch nicht durchgehend – über die Ereignisse berichten lässt. Es liegt vermutlich nicht nur daran, dass diese Perspektive nicht immer sauber gearbeitet ist, dass sie eine Schwäche des Romans ist. Zwar sorgt sie dafür, dass trotz der Omnipräsenz des Todes dem Roman über weite Strecken eine erstaunliche Leichtigkeit eigen ist. Das Morbide und Sprachmächtige eines Knut Hamsun oder die nebelumflorte Schauerlichkeit eines Theodor Storm jedoch sucht man hier vergebens. Sie sorgt aber auch dafür, dass man ein ums andere Mal auf einen allzu moralisierenden Gestus trifft, der dem Nachdruck verleihen soll, was sich besser von selbst ergibt.

Carsten Jensen: Wir Ertrunkenen. Roman. Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg. Knaus Verlag, München 2008. 784 Seiten, 24,95 €.

Wiebke Porombka

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