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Colum McCann: Auf dem hohen Seil

Balanceakt: In "Die große Welt" erzählt Colum McCann von New Yorker Lebenskünstlern.

Zu träumen, dass man fliegt, hat allerlei schöne Gründe, ist aber auch ein Zeichen dafür, dass man gern fantasiert, etwas zu können, was man nicht kann. Seiltanzen kommt diesem Traum in der Realität auf wunderliche Weise nahe durch das kurzzeitige Austricksen der Schwerkraft, wobei das Illusionäre schon in dem Wort Seiltanzen euphemistisch, wenn nicht gar zynisch zum Ausdruck kommt, ist doch der den Elementen und dem Gleichgewicht ausgelieferte Balanceakt alles andere als ein Tanz. Für den Akrobaten sind höchste Konzentration und Vorsicht die Grundbedingung, sonst fällt die Porzellankiste einfach runter.

Was Philippe Petit an einem Tag im August 1974 zuwege gebracht hat, war vermutlich das absolute Meisterstück in dieser seltsamen Profession, die irgendwo zwischen Sport und Meditation das Traumgefühl der Levitation anpeilt. Es war zudem eine logistische Spitzenleistung, denn es gelang ihm, vom einen Turm des World Trade Center zum anderen ein Drahtseil zu spannen, es unbehelligt zu betreten, darauf allerlei Kunststücke vorzuführen und heil auf dem anderen Turm wieder einigermaßen festen Boden zu betreten. Wer’s damals sah, wollte seinen Augen nicht trauen.

Colum McCann, im Buch so genannter „internationaler Bestsellerautor“ und Equilibrist der anderen Art, hat sich nun von jenem Sensationsereignis zu einem vielsätzigen Werk anregen lassen, das er am gestrigen Sonnabend auch auf dem Berliner Literaturfestival vorstellte. In seinem Dutzend stoffreicher Kapitel vertraut er ganz und gar seiner überquellenden Menschenerfindungsfantasie und flicht die Lebensfäden mehrerer Menschen ineinander, die an jenem Tag auf die eine oder andere Weise von dem Luftspaziergang des jungen Mannes in vierhundert Meter Höhe erfahren haben.

Ein Bloomsday wird der 7. August 1974 deswegen nicht werden – McCann ist zwar Dubliner, aber eben doch kein Joyce –, und gewiss hat das Ereignis damals in keines der Leben, von denen wir hier erfahren, wirklich eingegriffen oder es gar verändert. Und doch sind auch sie alle damit beschäftigt, ihre Existenz einigermaßen im Gleichgewicht zu halten, nur mit dem Unterschied, dass es weder einem von ihnen wirklich gelingt, noch dass ihnen die halbe Stadt dabei zuschaut.

Das erste Kapitel greift zurück in die Fünfziger des letzten Jahrhunderts und erzählt von einer kleinen Dubliner Familie mit zwei Söhnen, von denen der eine, Corrigan, schon mit 13 nachts loszieht, seltsam angezogen von den Huren und den Obdachlosen, den Drogen und dem Alkohol, als suche er etwas, was nur in diesem Milieu zu finden wäre. Und dort, wo Gott zu Hause ist: Er tritt in einen Orden ein und legt ein Keuschheitsgelübde ab. All dem bleibt er auch dann treu, als er nach New York gegangen ist, um dort den Armen und Verlorenen zu helfen.

Da es nicht einfach New York ist, wo er jetzt lebt, sondern die Bronx, hat er bald genug Gelegenheit, sich um die schwarzen Huren zu kümmern, sich mit Zuhältern zu schlagen und der Polizei auf die Nerven zu gehen. Corrigan ist ziemlich seltsam, aber ein guter Mensch, und das ist letztlich auch Tillie Henderson, die mit 38 Großmutter wurde und damals schon seit Ewigkeiten auf den Strich ging, so wie auch ihre Tochter Jazzlyn, die Tillie wenigstens im Arm hielt, wenn sie drückte, nachdem sie sie in dem Milieu, in dem sie lebte, nicht vom Heroin hatte abhalten können. Auch Jazzlyn muss man sympathisch finden, beide, Mutter und Tochter, sind ja nicht einfach Nutten, sie sind die Sorte Hure mit Herz. Wie sollte man denn nicht gern von denen lesen, ein bisschen redselig ist das zwar erzählt, aber immer flüssig und mit dem Herz auf dem rechten Fleck, also da, wo auch wir Leser es haben.

Als Corrigan sich schließlich verliebt, ist sein Auge wahrhaftig nicht auf die Falsche gefallen, aber es soll nicht sein, die Guten bekommen einfach nie, was sie verdient haben, das ist wieder der Unterschied zu den Lesern. Ein bekifftes Künstlerpärchen genügt, das im Verkehr nicht richtig aufpasst, und schon fliegt Jazzlyn durch die Windschutzscheibe und Corrigan drückt es die Lenkradsäule in die Brust, so dass er gerade noch von etwas Wunderschönem flüstern kann, das er gesehen hat, etwas von einem Mann und einem Gebäude, und man versteht, wie McCann sich die Verbindung von Seiltanz und Gottesnähe vorgestellt hat.

Zum Glück aber spüren andere, die uns auch schon in diesem Buch begegnet waren, dass nun sie aufgerufen sind, einzugreifen und sich zu kümmern, Corrigans Bruder zum Beispiel oder Claire und Gloria, Mütter gefallener Vietnam-Soldaten, so kommt etwas Zeitkolorit ins Spiel, von Nixon war auch schon mal die Rede gewesen. Ein Leben greift ins andere, als sei es Zufall, es ist aber ein Roman, und was die Vorsehung verpasst hat, das fügt der Autor sinnfällig zusammen.

Man liest es gern, und Dirk van Gunsteren hat es treffsicher übersetzt. Und wer verstünde es nicht, wenn von einer die Rede ist, die, wie es hier eigenwillig heißt, keinen anderen Wunsch hat, „als fortzugehen in ein unverfälschtes Anderswo“. Und weil dies ja auch ein New-York-Roman ist, den Frank McCourt kurz vor seinem Tod noch mit der Bemerkung gelobt hat, keiner, der über New York schrieb, sei „jemals tiefer eingetaucht und höher aufgestiegen“, suggeriert McCann, dass dieses Anderswo vielleicht sogar ganz real in der Bronx zu finden wäre.

Die Wahrheit aber ist, dass das einzige Reale, von dem in diesem Roman erzählt wird, der völlig unglaubwürdige und wahnsinnige Seiltanz ist, der die Türme, zwischen denen er einst stattgefunden hat, nicht zuletzt dank Colum McCann überdauert hat.

Colum McCann: Die große Welt. Roman. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Rowohlt Verlag, Reinbek 2009. 537 Seiten, 19,80 €.

Jochen Jung

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