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Kirsch

© Ullstein/Andree

DDR-Gedichte: "Als ich Wasser holte, fiel ein Haus auf mich"

Unterm Schutt geborgen: Klaus Wagenbachs Anthologie "100 Gedichte aus der DDR“ im west-östlichen Doppelblick von Gregor Dotzauer und Richard Pietrass.

Was wüsste man von einem Land, das bis auf 100 exemplarische Gedichte kein kulturelles Zeugnis hinterlassen hat? Wüsste man, wie es regiert wurde? Ob seine Bewohner zufriedene, einander zugetane Menschen waren? Was sie bewegte. was sie niederdrückte? Nichts davon würde man mit Bestimmtheit erfahren, weil schon das Wort exemplarisch von Fall zu Fall eine andere Bedeutung hätte. Und würde Poesie das Verhältnis eines Volkes zu den Sphären des Politischen und des Privaten ungebrochener spiegeln als von vornherein auf Mitteilung angelegte Formen? Dürfte man auch nur eine Sekunde lang darauf vertrauen, dass die Sprache des Gedichts weniger deformiert, folglich genauer wäre als die von Essays, Romanen oder Leitartikeln?

Im Fall der DDR kann zumindest niemand behaupten, einen kontextlosen Raum zu betreten. Selbst der unbedarfteste, von allen lyrischen Intuitionen verlassene Leser der Anthologie, die Christoph Buchwald und Klaus Wagenbach nun 20 Jahre nach dem Untergang einer Republik herausgegeben haben, die kein halbes Jahrhundert überdauerte, müsste erst jedes Geschichtsbewusstsein ablegen, um nicht sofort die von Kriechströmen bis zum Blitzschlag reichenden Spannungen zwischen Staat und Kunst zu bemerken, die hier am Werk sind.

Wie das Hymnische neben das Skeptische tritt, wie der antifaschistische Aufschwung der frühen Jahre in den grauen Stoizismus der späten mündet – das lässt sich beispielhaft verfolgen. Man begreift auch, wie ein Sprechen in Andeutungen um sich griff und die Verklarung in der Verunklarung – wenn man derart summarisch über Dichter sprechen darf, die unabhängig von Grad und Art ihrer sozialistischen Beseeltheit auf ihrer Individualität beharren würden. Aber das mit sechs Seiten viel zu knappe Nachwort stellt ganz zu Recht fest: „Ein Gelände besteht eben nicht nur aus Solitären.“

Dennoch ist es reizvoll, sich vorzustellen, man könnte diesen Gedichten nachhören, als stünden sie außerhalb jedes sofort erkennbaren Zusammenhangs – ähnlich wie die Außerirdischen, die vielleicht dereinst die der Voyager-Sonde der NASA beigegebene Goldene Schallplatte mit Igor Strawinskys „Sacre du Printemps“ auflegen und sich fragen werden, welche Wesen solche Klangekstasen herstellen. Die Herausgeber der „100 Gedichte“ machen es einem da leicht.

Bei den Kurzvitae der Dichter sparen sie sich jeden charakterisierenden Satz zum Werk – was den Nachgeborenen den Rangunterschied von, sagen wir, Karl Mickel zu Eva Strittmatter, nicht gerade verdeutlicht. Die Gedichte selbst sind sogar da, wo Erklärungen hilfreich wären, nicht annotiert und in der Regel undatiert. Dieses in der Zusammenschau seiner Texte gewichtige Büchlein ist also editorisch ziemlich hingeschlampt.

Wenn das Nachwort im Vorübergehen auf den Ruhm eines besonders umstrittenen Gedichts wie Sarah Kirschs „Schwarze Bohnen“ hinweist, bleibt der Leser, der nicht weiß, dass es Ende der sechziger Jahre, als es in der vom Regime schnell makulierten Anthologie „Saison für Lyrik“ herauskam, als spätbürgerlich-resignativ angegriffen wurde, angesichts des reinen Texts ratlos: „Nachmittags mahle ich Kaffee / Nachmittags setze ich den zermahlnen Kaffee / Rückwärts zusammen schöne / Schwarze Bohnen“. Was verlieren solche Texte, wenn sie auf einmal für sich stehen müssen? Und: Was gewinnen sie?

Gedichte sind nicht einfach Dokumente. Sie wollen die historische Signatur überleben, die sie in sich tragen – gerade in einem Land, das so, wie es hier erscheint, zwar kaum unter parteilyrischen Altlasten leidet, die Omnipräsenz des Politischen aber mit einer trotzigen Innerlichkeit bekämpfte – und mehr oder weniger dialektischen Widerstandskassibern. Nichts davon lässt sich freilich zuverlässig in seine ideologischen, literarischen und Wahrhaftigkeitsbestandteile auflösen.

Rainer Kirsch halluzinierte 1962 ein Gedicht mit dem Titel „2005“, in dem es heißt: „Unsere Enkel werden uns dann fragen: / Habt ihr damals gut genug gehasst? / Habt ihr eure Schlachten selbst geschlagen / Oder euch den Zeiten angepasst?“ Mit der ganzen romantischen Hoffnung, dass Texte darüber Auskunft zu geben vermögen, schreibt er: „Und sie werden jede Zeile lesen / Ob in vielen Worten eines ist / Das noch gilt, und das sich nicht vergisst.“

Andererseits ist lebendige Erinnerung nicht einfach Gültigkeit. Zu ihr gehört die historische Kontroverse, wie sie sich an Volker Brauns hier fehlendem Gedicht über eine Schrecklichkeit entzündete, die größere Schrecklichkeiten abhalten sollte: „Die Mauer“. Eindeutige Frechheiten wie Peter Hacks’ Zusammenbruchsklage „1990“ bezeugen da weniger: „Nun erleb ich schon die dritte Woche / Die finale Niedergangsepoche.“

Insofern: gewiss kein Kanon, aber eine überfällige Heimholungsaktion. Sie verschafft dem im eigenen Sumpf rudernden Westler etwa die erneute Bekanntschaft mit dem Dresdner Thomas Rosenlöcher, einem melancholischen Hochironiker, ohne dessen poetische Handreichungen man durch die nunmehr gesamtdeutschen Gärten und Wälder viel blinder spazieren würde. Gregor Dotzauer

Bertolt Brecht wusste: „Wenn das Haus eines Großen zusammenbricht / Werden viele Kleine erschlagen. / Die das Glück der Mächtigen nicht teilten / Teilen oft ihr Unglück.“ Das Schicksal ihres Staates teilt auch ein großer Teil der ostdeutschen Dichter. Seit Adolf Endlers und Karl Mickels Anthologie „In diesem besseren Land“ (1966), und Berger / Deickes staatstragender „Lyrik der DDR“ (1970 ff.) und der späten, von Wulf Kirsten mit Heinz Kahlau und Ursula Heukenkamp besorgten, geglückteren Sammlung „Die eigene Stimme“ (1987), gab es keine neue Gesamtschau der DDR-Lyrik.

Meine schlafenden Gedächtnishunde erinnern noch Peter Geists die siebziger und achtziger Jahre sichtenden „Molotowcocktail auf fremder Bettkante“ (1992) und den am umstrittenen, dichtenden und dem großen Staatsohr berichtenden Herausgeber gescheiterten Versuch des Verlags Faber & Faber, seine auf 20 Bände angelegte DDR-Bibliothek mit einer Lyrikanthologie abzuschließen. Der brache Acker entpuppte sich als vermintes Feld von Nibelungentreue und gepflegter Feindseligkeit.

Die Herausgeber der „100 Gedichte aus der DDR“ haben diese Probleme nicht. Während Klaus Wagenbachs freundschaftliche Bindungen an Johannes Bobrowski oder Stephan Hermlin weit zurückreichen, datieren die Kontakte des 20 Jahre jüngeren Christoph Buchwald erst ab Mitte der Siebziger. Als Mitherausgeber des „Jahrbuchs der Lyrik“ gewann er Einblick in die Produktion der ostdeutschen Dichter, die sich, politischen Erschwernissen trotzend, nicht davon abbringen ließen, sich an der Versschau zu beteiligen. Doch hätte man sich ruhig für ein bewusst ostwestlich gemischtes Herausgeberdoppel entscheiden können – ohne den Beigeschmack eingebüßter Zuständigkeit. So wird ein dezimierter Indianerstamm exhumiert, präpariert und als „Erbe“ präsentiert. Fröhlich glänzen die Tropenhelme.

Abgesehen von diesem Makel las ich diese DDR-Light-Sammlung mit Vergnügen. 100 Gedichte, die man populären Autoren, jedem für sich, gern zubilligt, erweisen sich für 40 Jahre Dichtung eines ganzen Lese- und Schreiblands als enger Stützstrumpf. Aber wer, zumindest von der westlichen Leserschaft, will es 20 Jahre nach Wende und Ende noch so oder schon wieder so genau wissen?

Leicht haben es sich die Herausgeber nicht gemacht. Das Mischprinzip von schlichter Zeitgeschichtsbebilderung und glanzvollen, bleibenden Einzelstücken funktioniert, wenn auch knirschend. Besonders, wo wie bei den meisten der 59 Autoren der einzelne mit nur einem Gedicht vertreten ist, wird dies schnell zu einem Etikett.

Man genießt Gedichte wie Peter Huchels „Psalm“, Johannes Bobrowskis „Holunderblüte“, Stephan Hermlins „Die Vögel und der Test“, Biermanns „Warte nicht auf bessre Zeiten“, Wulf Kirstens „Erde bei Meißen“, Mickels „Friedensfeier“, Sarah Kirschs „Ich wollte meinen König töten“, Richard Leisings „Homo sapiens“, Volker Brauns „Lehen“ und „Das Verschwinden des Volkseigentums“, Elke Erbs „Flachland vor Leipzig“, Jürgen Rennerts „Mein Land ist mir zerfallen“ und Thomas Rosenlöchers „Verlängerung“. Und man vermisst Hermlins „Die Zeit der Wunder“, Leisings „Vom alten Weib“ und „Bodden“, Endlers „Lied vom Fleiß“ und „Das Sandkorn“, Hilbigs „meer in sachsen“, Brauns „Empfang beim Würdenträger“ und Inge Müllers „Unterm Schutt (III)“: „Als ich Wasser holte fiel ein Haus auf mich / Wir haben das Haus getragen / Der vergessene Hund und ich. / Fragt mich nicht wie / Ich erinnere mich nicht. / Fragt den Hund wie.“

Verschüttet und nicht auflebend geborgen: eine ganze Phalanx von Namen der Früh-, Kern- und Endzeit der DDR-Dichtung: Erich Weinert, Rudolf Leonhard, Hans Lorbeer, Louis Fürnberg, René Schwachhofer, Wilhelm Tkaczyk, Walter Werner, Uwe Grüning, Christiane Grosz und Michael Wüstefeld. Gleichfalls nicht gerettet: der Verzweiflungssonettist Manfred Streubel, der Bobrowski- und Kirsten-Eleve Harald Gerlach, der virtuose Klassizist Andreas Reimann und des immer kraftvolleren Wilhelm Bartsch. Zu ihren Gunsten hätten die kulinarischen, ihrem Spaßaffen Zucker gebenden Herausgeber auf Gelegenheitsgedichte späterer Prosaautoren wie Jurek Becker und Katja Lange-Müller und Manfred Bieler, ja auch auf Heinar Kipphardt verzichten können.

Was bleibet aber, stiften die Einrichter: einen alles andere als langweilen Spaziergang über ein Trümmergrundstück, auf dem schon das Gras des Vergessens sprießt. Der Kölner Archiv-Orkus gähnt und mahnt, das Hüten von Schriftschätzen nicht allein den beauftragten Häusern und Institutionen zu überlassen, sondern die Bewahrkraft jedes privat beschirmten Buchs und jedes dezentralen Regals mitzudenken. Die Frau des großen russischen Dichters Ossip Mandelstam lernte in der gemeinsamen Verbannung die Gedichte ihres Mannes auswendig. So blieben sie, als er 1938 in Russlands fernstem Osten den Gulagtod starb, kraft ihres Gedächtnisses auch uns überantwortet. Richard Pietrass

Christoph Buchwald, Klaus Wagenbach (Hg.): 100 Gedichte aus der DDR.
Wagenbach Verlag, Berlin 2009. 169 Seiten, 16,90 €.

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