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Literatur: Der Kampf der Emotionen

Erinnerung als Bürde: Dominique Moïsi über Angst und Demütigung als Hauptfaktoren für die Weltpolitik

Die Hauptthese dieses Buches ist schnell erzählt: Dominique Moïsi stellt die rhetorische Frage, ob es in der Geopolitik allein um Vernunft, um objektive Gegebenheiten wie Grenzen, ökonomische Ressourcen, militärische Macht und kaltes politisches Interessenkalkül geht. Anhand vieler Beispiele illustriert er dann, dass man die Welt nicht verstehen kann, wenn man nicht auch ihre Emotionen berücksichtigt und sie zu begreifen versucht. Denn Angst gegen Hoffnung, Hoffnung gegen Demütigung, Demütigung, die zu Irrationalität und gelegentlich zu Gewalt führt, prägen die Geschichte der Menschheit bis heute.

Was auf den ersten Blick als eine relativ banale Erkenntnis erscheint, gewinnt auf den zweiten doch noch eine gewisse Faszination. Denn Moïsi durchstreift nicht nur die aktuellen Konfliktherde der Erde, um die Rolle von Emotionen in politischen Auseinandersetzungen zu untersuchen. Der stellvertretende Direktor des französischen Instituts für internationale Beziehungen wagt zugleich einen Ausblick in die Welt des Jahres 2025: Wird sie von Angst oder von Hoffnung beherrscht werden? Moïsi skizziert zwei Szenarien. Die erste Variante: Angst gewinnt die Oberhand. Es ist November 2025. In gedrückter Stimmung und mit düsteren Zukunftserwartungen gedenkt Israel in Tel Aviv des 30. Jahrestags der Ermordung von Jitzhak Rabin. Seit dem Beginn der vierten Intifada im Jahr 2018 hat sich die Sicherheitslage nicht nur in Israel und in Palästina, sondern im gesamten Nahen Osten weiter verschlechtert.

Parallel ist es weltweit zu einer „Israelisierung“ des öffentlichen Lebens gekommen: Die Kultur der Angst herrscht mittlerweile global. Terroristische Netzwerke haben in San Francisco, London, Paris, Prag, Tokio, Mumbai und weiteren europäischen und asiatischen Städten in einer Anschlagserie der Jahre 2019 und 2020 biologische Waffen eingesetzt. In Folge dieser Attacken, die etwa 30 000 Menschen das Leben kosteten, haben die meisten Regierungen die Sicherheitsmaßnahmen drastisch verschärft: Grenzen wurden geschlossen, bei praktisch jeder wirtschaftlichen Transaktion muss man sich ausweisen.

Das Ergebnis: Der Kampf der Kulturen ist von einer provozierenden Hypothese zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung geworden. Den Umschlagpunkt bildeten die amerikanischen und israelischen Luftangriffe auf den Iran, die zum Sturz Ahmadinedschads führten. Zwar waren die Bombardements militärisch ein Erfolg. Aber wie schon der Krieg im Irak waren sie politisch eine Katastrophe, da sie in der gesamten islamischen Welt einen Ausbruch antiwestlicher Hassgefühle bewirkten. Die Folge war ein atomares Wettrüsten im Nahen Osten: Angesichts der Bedrohung durch einen nuklearen Fundamentalismus legten sich auch Saudi-Arabien, Ägypten und die Türkei Atomwaffen zu. Der Westen verwandelte sich daraufhin in eine Festung und schottete sich sowohl gegen Menschen und Ideen aus dem Nahen Osten als auch gegen Industriegüter aus Asien ab.

Dieser globalisierungsfeindlichen Atmosphäre voller Misstrauen und Angst stellt Moïsi ein zweites Szenario gegenüber, indem sich die Hoffnung durchsetzt: Es ist erneut November 2025. In Tel Aviv finden die großen internationalen Feierlichkeiten anlässlich des fünften Jahrestages der Unterzeichnung des nahöstlichen Friedensabkommens statt. Es hat endlich einen Schlussstrich unter mehr als 70 Jahre Gewalt, Unsicherheit und Ungerechtigkeit gezogen. Dass die Einigung wider Erwarten doch noch zustande kam, verdankte sie ebenso sehr der bloßen Erschöpfung wie einer Sehnsucht nach Frieden auf beiden Seiten. Im Jahr 2025 hat eine neue multipolare Ordnung relative Stabilität in die internationalen Beziehungen gebracht: Europa und die Vereinigten Staaten teilen eine gemeinsame Kultur auf der Basis demokratischer Prinzipien. Indien als die große asiatische Demokratie bildet eine Brücke zwischen dem Westen und den anderen führenden Mächten China und Russland.

Welchen Weg wird die Welt in Wirklichkeit einschlagen? Welche politischen Strategien und institutionellen Mechanismen sind notwendig, um die Hoffnung zu stärken und Angst und das Gefühl der Demütigung einzudämmen oder zu vermindern? Moïsi legt eine Art Hausaufgabenliste für die einzelnen Weltregionen vor: In Asien bedeutet für ihn Wandel, Rechtsstaatlichkeit durchzusetzen und die Ärmsten in die Gesellschaft zu integrieren. Wenn China und Indien weiterhin die Kultur der Hoffnung verkörpern wollen, dürfen sie nicht zulassen, dass das Wirtschaftswachstum durch gesellschaftliche und politische Instabilität gefährdet wird, die zwangsläufig aus einem starren Festhalten am Status quo folgen würde. Russland wiederum darf den „orientalischen Despotismus“ nicht einfach tatenlos als sein Schicksal hinnehmen. Zugleich kann ein Amerika, das im Ausland bescheidener und redlicher auftritt und zugleich im Innern in sozial- und umweltpolitischen Fragen viel ehrgeiziger ist, sein internationales Renommee zurückerlangen. Europa schließlich sollte nach Moïsis Empfehlung wieder den Ehrgeiz entwickeln, ein globaler Akteur zu werden und zugleich Normen und Werten stets vorrangige Beachtung zu schenken. Der Zweck des europäischen Projekts sollte darin bestehen, den Souveränitätsbegriff für das 21. Jahrhundert neu zu erfinden.

In der Bürde der Erinnerung und des Ressentiments sieht Moïsi das größte Hindernis für Veränderungen im Nahen Osten. Will die arabisch-islamische Welt ihre Kultur der Demütigung überwinden, sollte sie sich am Erfolg der Golf-Emirate orientieren. Denn Dubai und Abu Dhabi beweisen, dass Moderne und Islam nicht unvereinbar sind und dass Araber im Wettbewerb des globalen Zeitalters reüssieren können, wenn sie sich dem Wandel öffnen und von einer positiven Zukunftsvision leiten lassen, statt sich auf die Vergangenheit zu fixieren.

Lateinamerika hat nach Moïsis Rezeptur seine populistischen Versuchungen zu überwinden und sich von seinem negativen Selbstbild zu befreien. Es besitzt die humanen und physischen Ressourcen, um zu einem geeinten Kontinent voller Hoffnung und Chancen zu werden. Das Gleiche gilt in Moïsis Augen für Afrika. Damit setzt er Kulturen der Angst und Demütigung die von Hoffnung und Wandel entgegen – und das nicht aus Altruismus. Denn die emotionalen Grenzen sind nicht erst in der globalisierten Welt genauso entscheidend wie die geografischen. Als Sohn eines Auschwitz-Überlebenden weiß Moïsi nur allzu genau, wovon er hier spricht. Jules Moïsi hat er sein im wahrsten Sinne des Wortes hoffnungsvolles Buch gewidmet: „Nummer 159721 in Auschwitz, der tiefste Angst und Demütigung überlebte und mich Hoffnung lehrte.“

– Dominique Moïsi: Kampf der Emotionen. Wie Kulturen der Angst, Demütigung und Hoffnung die Weltpolitik bestimmen. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2009. 240 Seiten, 19,95 Euro.

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