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''Der Kampf um die zweite Welt'': Amerika braucht einen Marshall-Plan

Parag Khanna hat die Zweite Welt bereist – und dabei sein Heimatland USA wiedererkannt.

Unter Mitarbeitern der Weltbank in Washington heißt es im Scherz, sie würden niemals behaupten, sich in einem Land auszukennen, wenn sie es nicht wenigstens schon einmal überflogen hätten. Und schon Augustinus mahnte, die Welt sei ein Buch, und diejenigen, die sie nicht bereist hätten, hätten nur eine Seite daraus gelesen. Da Parag Khanna diese eine Seite nicht genug ist, hat sich der Amerikaner auf den Weg gemacht. Der Mitarbeiter des Weltwirtschaftsforums in Davos und des Washingtoner Think-Tanks „New American Foundation“ bereiste mehr als 50 Länder der sogenannten Zweiten Welt, wo der Wohlstand der Ersten auf das Elend der Dritten Welt prallt.

Die strategische und ökonomische Bedeutung dieser Staatengruppe in Osteuropa, Zentralasien, Lateinamerika, im Nahen Osten und in Ostasien ist nach Khanna kaum zu überschätzen. Denn die Zweite Welt bildet den zentralen Schauplatz, auf dem sich die künftige Gestalt der Weltordnung entscheiden wird. Sie bestimmt, wie das Machtgleichgewicht zwischen den drei größten Imperien des 21. Jahrhunderts, den Vereinigten Staaten, der Europäischen Union und China aussehen wird. Sie ist der Ort, wo Geopolitik und Globalisierung aufeinandertreffen und miteinander verschmelzen.

Bei seiner Reise durch diese Welt stellt Khanna an sich selbst höchste Ansprüche: Er habe jedes Land immer erst dann verlassen, wenn er sich von innen heraus einen umfassenden Eindruck verschafft hatte, wenn er unterschiedlichste Perspektiven der Städte, Dörfer und Landschaften gewonnen hatte, die auf Gesprächen mit Beamten, Wissenschaftlern, Journalisten, Unternehmern, Taxifahrern und Studenten beruhten. Er sei so lange geblieben, bis er die Welt mit ihren Augen gesehen habe.

Ist Khanna das gelungen? Über weite Strecken seiner einzelnen Länderberichte schon, in seinem Fazit nur bedingt. Betont der Autor von „New York Times“, „Washington Post“ und „Financial Times“ im Vorwort, sein Buch befasse sich ausschließlich mit der Frage, wie sich die Staaten der Zweiten Welt im Zeitalter der Globalisierung und des ständigen geopolitischen Wandels selbst sehen, so analysiert er in seinen Schlussbemerkungen beinahe allein die heutige und zukünftige Lage der USA.

Doch das ist keinesfalls nur von Nachteil für den Leser. Denn Khanna beleuchtet zahlreiche Facetten seines Heimatlandes vor dem Hintergrund seiner Reiseerfahrungen. So sieht er die vermeintliche Vormachtstellung der Vereinigten Staaten in jeder Region der Zweiten Welt als Irrglaube entlarvt: Die EU kann ihren Osten stabilisieren. Die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit unter Führung Chinas kann Zentralasien organisieren. Südamerika kann die USA zurückweisen. Die arabischen Staaten werden sich nicht mit der amerikanischen Vorherrschaft abfinden. Und China kann nicht allein mit militärischen Mitteln in Ostasien eingedämmt werden.

Um zu diesen Erkenntnissen zu gelangen, ist zwar nicht unbedingt eine Reise durch die außeramerikanische Welt notwendig. Aber ein derart ernüchternder Report über die globale Rolle der Vereinigten Staaten ist aus Washington selten zu lesen. Nicht zuletzt der Vergleich der inneren Verfasstheit Amerikas mit dem Bild, das sich Khanna von anderen Gemeinwesen in der Ersten und Zweiten Welt machen konnte, lässt aufhorchen: Wie einst beim spanischen Kolonialreich erzeugt die amerikanische Abhängigkeit von ausländischen Finanzmitteln und abtrünnigen Verbündeten eine kaum zu bändigende Instabilität und Krisenanfälligkeit. Der Anteil der USA an der Weltwirtschaft ist seit dem Zweiten Weltkrieg von 50 auf 25 Prozent gesunken. China und Japan halten zusammen nicht nur die größten Dollar-Reserven. Zum ersten Mal in der Geschichte stammt die wichtigste Weltwährung von einem Land, das eine Schuldnernation ist und bei seinen Rivalen in der Kreide steht – mit gravierenden machtpolitischen Folgen: Je mehr Länder und Investoren auf den Euro als Leitwährung umsteigen, desto weniger können die Vereinigten Staaten ihre Defizite und kostspieligen Militäroperationen finanzieren.

Khanna will bei seinem Heimatland nicht länger von einer Mittelschichtnation sprechen. Denn er sieht dort eine Kombination von Extremen am Werke, wie sie typisch ist für die Zweite Welt: Seit 30 Jahren haben die amerikanischen Arbeiter keine realen Lohnzuwächse verzeichnet. Ihr Anteil an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung schrumpft, während ihre Zahl zunimmt. Ein Fünftel der Kinder wächst in Armut auf. Die Gesamtzahl der Armen beträgt allmählich fast 40 Millionen. Die Zahl der Bandenmitglieder ist so hoch wie die der Polizisten – rund 750 000. Das öffentliche Verkehrssystem befindet sich in einem prekären Zustand. Die Verbreitung von Breitband-Internetzugängen ist geringer als in Europa. Mobiltelefonnetze sind technisch nicht auf dem neuesten Stand.

Nach Khannas Diagnose leiden die USA womöglich unter dem gleichen Ölfluch wie viele Staaten der Zweiten Welt. Ein Großteil der Infrastruktur wurde während des Booms nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet, als die Vereinigten Staaten der größte Ölproduzent und -exporteur der Welt waren. Doch heute sind die Wasserrohre verrottet und die Kraftwerke heruntergewirtschaftet, was zu Blei- und Quecksilbervergiftungen und sporadischen, aber massiven Stromausfällen führt. Die Sanierung von Stadtvierteln mit großen Minderheitsproblemen bezeichnet Khanna als einen Euphemismus für Stadterneuerung, die weitgehend auf die gleiche radikale Slumbeseitigung hinausläuft, wie er sie in der Zweiten und Dritten Welt angetroffen hat.

Khannas Fazit: Für die meisten Japaner oder Deutschen wäre es ein Rückschritt, wenn sie wie die Amerikaner leben würden. Ihre Länder hält er nach seiner Reise für die beiden reichsten und fortschrittlichsten, am wenigsten von sozialer Ungerechtigkeit betroffenen Staaten der Welt. Die amerikanische Demokratie hingegen funktioniert nach Khannas Urteil in der Theorie besser als in der Praxis. Und was für ihn noch mehr Anlass zur Sorge ist: Bislang war das bestimmende Merkmal Amerikas vor allem seine Fähigkeit zur Selbsterneuerung, ja sogar zur Selbstkorrektur. Aber die Verbindung aus einer messianischen Politik, Kulturkämpfen, Angst vor der auswärtigen Welt und Selbstzweifeln an der eigenen Führungsfähigkeit machen einen neuen gesellschaftlichen Konsens in Khannas Augen unwahrscheinlich. Vielmehr sieht er in seiner Heimat ein Land der Ersten Welt, das einen Marshall-Plan benötigt, um sein Niveau zu halten.

„Der Kampf um die Zweite Welt“ erhält so ungewollt eine doppelte Bedeutung: Khanna hat zwar eine Reise unternommen, um das amerikanische Ausland für seine geopolitischen Analysen zu erforschen. Zurückgekehrt ist er aber vor allem mit Erkenntnissen über die USA selbst. Ihr zukünftiger Präsident, ob Barack Obama oder John McCain, sollte Khanna gründlich studieren – nicht nur in seinem eigenen Interesse, sondern vor allem in dem seiner Wähler.







– Parag Khanna:
Der Kampf um die Zweite Welt. Imperien und Einfluss in der neuen Weltordnung. Berlin Verlag, Berlin 2008. 623 Seiten, 26 Euro.

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