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Literatur: Der Mann aus dem Bau

In ihrem Roman „Böse Schafe“ erinnert Katja Lange-Müller an Westberlin

Keine Ahnung, wie es im April 1987 in der Birkenstraße 11, Berlin-Moabit, ausgesehen hat. Wahrscheinlich nicht viel anders als heute, ein bisschen trist die Fassade, dahinter Wohnhöhlen für die in der „Frontstadt“ zu kurz Gekommenen, die aus dem Westen Angestrandeten und „Rübergemachten“ aus dem Osten. „Ist nicht gerade gutbürgerlich, die Bleibe“, erklärt Harry, als er Sojas Bude, Dusche in der Küche, zum ersten Mal in Augenschein nimmt. Was so zufällig am Nollendorfplatz beginnt und wenig später bei einer Tasse Kakao weitergeht, hat, als Harry mit Freund Benno bei Soja zum Essen aufläuft, schon einen schicksalhaften Verlauf genommen. In der Kneipe bei der Schokolade hatte Soja den „entscheidenden Moment“ verpasst, die Kurve zu nehmen, einfach „den Arsch nicht hochgekriegt“.

Endgültig zu spät ist es, als sich Soja kurz vor der Jahrtausendwende an diese Begegnung erinnert. Da ist Harry nämlich schon lange tot. Geblieben ist ein wiedergefundenes Schulheft, in dem er in genau 89 Sätzen festgehalten hat, was ihn damals umtrieb. Einer lautet: „Essen ist Mist.“ Er meint damit nicht die hektisch hingezauberte Mahlzeit in der Birkenstraße, nach der Benno spurlos verschwand und Harry auf Sojas gegenüberliegender Matratze landete. Auf Essen konnte Harry nämlich gut verzichten.

Die wenigen Sätze, die durch Katja Lange-Müllers Roman „Böse Schafe“ mäandern, sind für die als Aushilfsblumenhändlerin arbeitende Schriftsetzerin Soja Edith Krüger, Anstoß für ein monologisches Zwiegespräch mit Harry. Denn von ihr, die den damals aus dem Gefängnis Entlassenen unterstützte und bei sich aufnahm, ist in dem Heft nicht andeutungsweise die Rede. Sie war ihm „keine geschriebene Silbe wert“, als ob es sie in Harrys Leben überhaupt nicht gegeben hätte. Wollte er sie schützen? Oder war es nur Gleichgültigkeit?

Für die Ich-Erzählerin beginnt ein Film zu laufen, genauer gesagt eine „Serie nicht sehr scharfer Diapositive“. Die erste Begegnung. Dann die plötzliche Nähe, der Sex. Soja ist keine, die sich verlieben muss, um mit einem Mann ins Bett zu steigen, im Gegenteil, sie ist eine Unkomplizierte, das schätzen die. Mit Harry, den sie „so radikal anders“ als sich selbst wähnt, fühlt sie sich innerlich verwandt, obgleich sie spürt, dass er ihr etwas verheimlicht. Auch ihre Geschichten will er nicht hören. Nicht die von der stellvertretenden Parteibezirkssekretärin, die Soja den Namen einer Partisanin verpasst hat, aber wegschaut, wenn der Vater die Tochter angrapscht. Auch nichts davon, dass Soja eben diese mächtige Mutter aus dem Ärmel zieht, um sich Ärger mit der Staatsmacht zu ersparen. Hat Harry eigentlich jemals gefragt, warum sie die DDR verlassen hat?

Für die sich mit Jobs und Sozialhilfe über Wasser haltende Soja ist Harry eine Herausforderung. Er will nicht zurück in den „Bau“, sondern „draußen bleiben um jeden Preis“. Für sie, die „mit Westmännern aus halbwegs sortierten Verhältnissen“ nicht klarkommt, bedeutet Harry eine Aufgabe. Dass Harry nicht nur ein Knastbruder, sondern auch ein Junkie ist, bekommt sie erst nach und nach mit. Mit Nikotin und Alkohol hat Soja reichlich Erfahrung, mit harten Stoffen nicht. Trotzdem organisiert sie Harrys Therapie, wacht darüber, dass er clean bleibt, mobilisiert ihre Freunde, die dabei helfen. Das erzeugt Abhängigkeiten: Harry entzieht sich immer nachdrücklicher, sie lernt die Eifersucht kennen, die Verlustangst. Dass da noch etwas ist, ignoriert sie, obwohl es deutliche Zeichen gibt. Dann platzt die Bombe. Für „das Grauen“, das dem Verrat folgt, findet Soja kaum Worte.

Katja Lange-Müller erzählt eine große Liebesgeschichte in kleinem Milieu, heruntergebrochen auf lakonische Sätze, schnoddrig bis in den Jargon, kalauernd bis zur Witzlosigkeit – aber immer auf der Hut vor der gefühlsmäßigen Überwältigung. Manchmal hadert man mit Sojas liebesblinder Blödheit, dann wieder ist man perplex über ihre Derbheit, vor allem wenn es zur Sache geht, im Bett und anderswo. So ersteht in Rückblenden und Überblendungen nicht nur das Porträt eines kämpfenden Paares, sondern auch des in Agonie verharrenden Westberlin, das von seinem Ende 1987 so wenig weiß wie Soja vom Tod ihres Harry. Es wird bevölkert von Gutmenschen und Kriminellen, aber vor allem von den „guten Bösen“, die, wie Harry notiert, „die Arschkarte schon am Tage ihrer Geburt ziehen“ und entweder „ein paar Jahre Knast abgreifen und auf dem Zahnfleisch kriechen oder unter die Röcke einer Religion oder Ideologie“ schlüpfen. Diesen „bösen Schafen“ gilt die besondere Sympathie der Autorin, vielleicht, weil sie „aus Angst vor Strafe nicht einmal mehr einander Gewalt antun, sondern nur noch sich selber“.

Für das Ende dieses am Ost-West-Bruch angesiedelten Biotops und seiner Bewohner findet Lange-Müller ein Bild, das die in der Tierwelt bewanderte Autorin (für „Frühe Tierliebe“ erhielt sie 2002 den Döblin-Preis) der Zoologie entlehnt. Nach dem Mauerfall, skizziert sie das Szenario, fühlten sich „die Ost-, West- oder Doppelberliner wie Asseln, die nach Asselart unter Steinen gelebt hatten.“ Als diese dann fortgenommen wurden, „irrten sie kopfscheu herum, die kleinen Wesen, oder stellten sich tot – und wünschten sich nur ihre Heimatsteine zurück; die Dunkelheit, die Ruhe, eben das, was sie gewohnt waren.“

Solche Bilder und das tief angesetzte Timbre dieser verunglückten Liebe sind es, die mit der bei Lange-Müller wohl unvermeidlichen Witzelei versöhnen und die kompositorischen Schwächen des Romans – etwa die eingeschobenen, beliebig wirkenden DDR-Miniaturen – übersehen lassen. „Böse Schafe“ ist ein autobiografisch gefärbter, bös-melancholischer Nachruf auf das alte Westberlin.

Katja Lange-Müller: Böse Schafe. Roman. Kiepenheuer & Witsch. Köln 2007. 204 Seiten, 16,90 €.

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