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''Der Tote von Passy'': Puzzlespiel

Ein Kunststück aus Weisheit und Wut. Barbara Bongartz setzt ein Frauenleben neu zusammen

Eine Frau erhält einen Brief, in dem sie zur Beerdigung eines Mannes nach Paris eingeladen wird, von dem behauptet wird, er sei ihr Vater gewesen. Weder hat sie den Namen jemals gehört, noch hat sie je gezweifelt, wer ihr Vater ist. Dennoch folgt sie der Einladung. Schon auf der Reise begegnen ihr sonderbare Gestalten wie eine alte Dame, die sie auf ihre Herkunft hin anspricht. Denn obwohl die Heldin aus Deutschland kommt, sieht sie so aus, als käme sie aus dem Süden. Langsam befallen sie Erinnerungen, die alle mit dem Zweifel zusammenhängen, wer sie eigentlich ist. Sie heißt Barbara Bongartz wie die Autorin. Sie ist in Köln am Rhein groß geworden und hat sich in ihrer Familie immer etwas fremd gefühlt. Eine Verlorenheit, die sie ihr ganzes Leben lang verfolgt hat und die sie nur schreibend beruhigen konnte.

Verstörende Erinnerungen erwachen in der Ich-Erzählerin während der Beisetzung des ihr unbekannten Bankiers Alphonse Steiner. Erinnerungen an die Unsicherheit ihrer Mutter, sich als zur Familie gehörig zu fühlen. Das Misstrauen zwischen ihren Eltern. Ihr eigenes Gefühl, sich mit schönen Kleidern und distanziertem Verhalten von anderen abzusetzen. Ohne zu viel zu verraten: Die Reise, zu Anfang in einem unheimlichen Märchenton erzählt, ist der Auftakt für die Suche nach den leiblichen Eltern der Erzählerin. Eine schmerzhafte Suche, die sich wie ein Krimi entwickelt. Die „zweite“ Mutter, wie die Erzählerin ihre Adoptivmutter nennt, verweigert sich der Auseinanderetzung ebenso, wie die „erste“ Mutter sich über den leiblichen Vater ausschweigen möchte. Für beide Frauen ist die Erinnerung blockiert durch das, was in ihrem Leben ungelebt blieb. Mit beeindruckender Hartnäckigkeit verfolgt die Erzählerin ihr Ziel; was sich entfaltet, wird über die persönliche Geschichte hinaus ein Stück deutscher Geschichte, zurück bis zu den neu entdeckten Kreuzberger Großeltern, über die dreißiger Jahre in Ahlbeck auf Usedom und bis nach Marseille. Sie berührt die Nachkriegsgeschichte in Köln und führt bis ins heutige Berlin. Das alles wird auf 194 Seiten verdichtet und klar erzählt, manchmal zum Weinen anrührend, manchmal durchsetzt von einem maliziösen, warmen Humor.

Das Verbot, die eigene Geschichte zu kennen, wird zum Motor des Erzählens, und die Unsicherheit über die eigene Identität öffnet den Blick auf Gesten und Räume. Eine komplizierte Reflexion über die Verankerung im Leben wird hier überaus einfach erzählt: wie ein authentisches Material zerfällt und neu zusammengefügt werden muss. Das literarische Wissen um die vielen Wahrheiten muss mit der existenziellen Sehnsucht zusammengebracht werden, was die eine Wahrheit über die Herkunft ist. Ein Kunststück aus Weisheit und Wut.

Barbara Bongartz: Der Tote von Passy. Roman. Dittrich Verlag, Berlin 2007. 194 Seiten, 19,90 €.

Tanja Langer

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