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Deutschland versus DDR: Eine Grätsche der Geschichte

Das doppelte Deutschland: Ein Sammelband über 40 Jahre Systemkonkurrenz.

Bis 1949 hatte Deutschland eine gemeinsame Geschichte, und ab 1990 wieder. Aber was gilt für die vierzig Jahre dazwischen, in denen es zwei deutsche Staaten mit zwei Gesellschaften gab, die sich rapide auseinander entwickelten? Ende der fünfziger Jahre hatte noch der damalige Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier – immer gut für Grundsätzliches – erklärt, eine geteilte deutsche Geschichte dürfe man nicht einmal denken. Gut zwanzig Jahre später, Anfang der achtziger Jahre, begründeten Joachim Fest, Klaus-Dietrich Bracher und andere Leuchten der deutschen Zeitgeschichte ihr Vorhaben, eine Geschichte der Bundesrepublik herauszugeben, lapidar mit dem Umstand, dass sie eine Geschichte habe; die DDR werde nur insoweit vorkommen, wie es zu deren Verständnis notwendig sei. Das war offensichtlich nicht der Fall: die DDR kam in dem voluminösen Opus so gut wie nicht vor. Die Bundesrepublik war sich selbst genug geworden.

Eine überzeugende Antwort auf die Frage, welche Rolle die vier Jahrzehnte der geteilten Geschichte für die wiedervereinigten Deutschen spielen soll – intellektuell und emotional –, haben wir noch nicht gefunden. Wurden es wirklich zwei getrennte Geschichten? Gab es doch noch Zusammenhänge, in Zustimmung oder Abgrenzung, gar Gemeinsamkeiten? Versuche, eine gemeinsame Geschichte zu schreiben, sind durchweg ehrenvoll gescheitert: In der Gestalt von „asymmetrisch verflochten Parallelgeschichten“, wie sie Christoph Kleßmann geschrieben hat, ebenso wie Peter Graf Kielmansegg in seiner vorzüglichen Nachkriegsgeschichte „Nach der Katastrophe“, in der die DDR ein Appendix der gelungenen Geschichte der Bundesrepublik bleibt. Selbst bei Peter Benders schönem Essay „Deutschlands Wiederkehr“ ist die Absicht überzeugender als die Wirklichkeit, die sie einfängt. Aber für die Identität des neuen Deutschland bleibt es wichtig, sich darüber klar zu werden, inwieweit und in welchem Sinne beide Staaten als eine Geschichte gedacht werden können.

Das Institut für Zeitgeschichte hat jetzt einen neuen Anlauf unternommen. Er versucht, diese Geschichte an den „gegenseitigen Perzeptionen von politischen Entscheidungen, Programmen und politischen Ideen sowie von verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Prozessen“ festzumachen. Gefragt wird nach dem Aufeinanderbezogensein beider Geschichten, nach den daraus hervorgehenden Einflüssen, Rivalitäten und Abgrenzungen, doch durchaus mit dem Ehrgeiz, neue Dimensionen des Verstehens der ganzen Periode zu eröffnen. Die fünfzehn Aufsätze, zumeist von Mitarbeitern des Instituts erarbeitet, wollen gleichsam Sonden in das Massiv dieser Epoche treiben, um zumindest Proben der besonderen Lage des verdoppelten Deutschland zutage zu fördern.

Systemkonkurrenz heißt der Schlüsselbegriff, und er erweist sich tatsächlich bei vielen Themen als fruchtbar. Natürlich im Sport, wo DDR und Bundesrepublik über die Jahrzehnt hinweg in einer erbitterten Konkurrenz lagen – die DDR je länger, desto mehr in Front, nur nicht beim Massen-Spektakel Fußball, wo sie es doch so gerne gewesen wäre –, auch in Bezug auf die Dritte Welt und beim Ringen um die Anerkennung der DDR. Mit ihrer penetranten Entschlossenheit, die Frage nach dem „besseren Deutschland“ aufzuwerfen, hatte die DDR ja auch einen aggressiven Anspruch in die Nachkriegsgeschichte eingebracht. Die Realität hat ihn bald obsolet werden lassen.

Andere Bereiche sprechen auf diese Systemkonkurrenz-Maßgabe nicht so gut an. So instruktiv etwa bei der Bildungspolitik wie der Ölkrise der siebziger Jahre die Vergleiche sind: in Wahrheit dominieren die eigenständigen, endogenen Entwicklungen. Selbst im Falle der Abtreibungsgesetze in beiden Staaten geht die Antwort auf die zweifelnde Frage „Liberaler als bei uns?“ in den unterschiedlichen Bedingungslagen unter. Mehr als der Blick nach England oder Schweden hat der auf die DDR die Debatte in der Bundesrepublik auch nicht beeinflusst. Ohnedies ergibt der West- Ost-Blick zumeist Fallstudien, in denen sich zwar das deutsch-deutsche Dilemma in seiner Unvergleichbarkeit spiegelt, von Systemkonkurrenz im klassischen Sinne aber kaum die Rede sein kann.

Immerhin legen die Nachzeichnungen der öffentlichen Auseinandersetzung um das kulturelle Erbe, ausgehend vom Streit um Thomas Manns Reisen im Goethe- und Schillerjahr 1949 beziehungsweise 1955, oder des Verhältnisses der evangelischen Kirchen im Westen und Osten hochsensible Partien des sich verdoppelnden Deutschlands frei. Dass beispielsweise der Leipziger Kirchentag 1954, unter dem Motto „Wir sind doch Brüder“ die letzte große Manifestation des Willens zur Gemeinsamkeit, zum Angelpunkt für die kirchliche Entwicklung gemacht wird, eröffnet einen Blick auf die zähe, zusammenhaltende Kraft, die der Protestantismus auf die ost-westliche Waagschale brachte – obwohl er der Teilung seinen Tribut entrichtet hat. Ein Ereignis wie die Biermann-Ausweisung illustriert, wie sich eine Ideologie selbst den Prozess machte, der Westen jedoch zum kräftigen Mitakteur wird, weil er durch die Feuilletons und das Fernsehen die Öffentlichkeit dafür bereitstellt. Und Franz Josef Strauß’ Milliarden-Kredit zeigt, wie der Sololauf eines Exzentrikers die DDR sowohl stabilisierte als auch in der Konsequenz destabilisierte – und damit die beiden deutschlandpolitischen Doktrinen bediente, die sich damals heftig beharkten.

Nicht zuletzt ist es ein Verdienst des Bandes, entschwindenden Geschichtsstoff dingfest zu machen. Denn die deutsche Vereinigung hat zwar die Teilung beseitigt, sie aber zugleich im öffentlichen Bewusstsein verdrängt. Im übrigen ist es ein Verdienst des Buches, dass es der Verführung widersteht, diese vierzig Jahre in den gegenseitigen Reflexen aufgehen zu lassen. Die Wahrheit ist ja eine andere; die einer massiven Asymmetrie: Die DDR stand im Schatten der Bundesrepublik, diese aber brauchte die DDR eigentlich nicht und nahm sie zumeist nicht einmal zur Kenntnis. Und doch blieb es dabei – und das Buch belegt es –, dass Westen und Osten zwar nicht Deutschland waren, aber ohne den Bezug auf Deutschland nicht die gewesen wären, die sie waren. Weshalb sie unentrinnbar aufeinander bezogen blieben. Und eine gemeinsame Geschichte des getrennten Deutschlands weiter eine Aufgabe ist, die des Schweißes der Zeithistoriker wert ist.





– Udo Wengst,

Hermann Wentker (Hg.):
Das doppelte Deutschland. 40 Jahre Systemkonkurrenz. Ch. Links Verlag, Berlin 2008. 383 Seiten, 29,90 Euro.

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