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Verbrecher JAGD: Durchgeknallte Serienmörderin

Aiko Matsumishima hatte nie die Chance, ein netter Mensch zu werden. Anfang der sechziger Jahre kommt sie in der japanischen Hafenstadt Yokosuka in einem Bordell zur Welt, das vor allem von den Soldaten der benachbarten amerikanischen Marinebasis besucht wird.

Aiko Matsumishima hatte nie die Chance, ein netter Mensch zu werden. Anfang der sechziger Jahre kommt sie in der japanischen Hafenstadt Yokosuka in einem Bordell zur Welt, das vor allem von den Soldaten der benachbarten amerikanischen Marinebasis besucht wird. Ihre Mutter lässt sie im Stich, und Aiko wächst in überfüllten Heimen und lieblosen Pflegefamilien auf. Als die staatliche Fürsorgemaschinerie sie wieder ausspuckt, ist aus dem unglücklichen Waisenkind eine verbitterte junge Frau geworden. Das „Talent zur Hure“ fehlt ihr, also hält Aiko sich fast zwanzig Jahre lang mit miesen Jobs in Bars und Hotels über Wasser. Schließlich ist die Verzweiflung angesichts ihres verlorenen Lebens so groß, dass sie mit einem Feuerzeug und einem Kanister Benzin zu einem gnadenlosen Rachefeldzug aufbricht.

Man kann sich nur schwer vorstellen, dass Natsuo Kirino ihre Karriere in den achtziger Jahren mit seichter Unterhaltungsliteratur begonnen hat, um dann harmlose Detektivgeschichten zu schreiben, für die sie mit dem ehrwürdigen Edogawa-Rampo-Preis ausgezeichnet worden ist. Heute kennt die japanische Schrifstellerin kein Erbarmen mehr. In ihrem Roman „Die Umarmung des Todes“ hatte sie bereits genüsslich beschrieben, wie eine frustrierte Fabrikarbeiterin ihren Mann erwürgt und die Leiche mit einigen Kolleginnen fein säuberlich zerlegt und in einem Müllsack entsorgt. In „Teufelskind“ (Aus dem Japanischen von Frank Rövekamp, Goldmann, München 2008, 221 S., 17,95 €) lässt sie nun gleich zu Beginn eine ältere Dame und zwei weitere Menschen in Flammen aufgehen.

Kein Wunder, dass die 1951 geborene Natsuo Kirino zu den umstrittensten Autorinnen ihrer Generation gehört. Das Interessante an ihrem neuen Roman sind allerdings weniger die exzessiven Gewaltdarstellungen und auch nicht die originellen Sexpraktiken, bei denen unter anderem Babypuder, Windeln und „fünf Kilo allerbestes Rindfleisch“ zum Einsatz kommen. „Teufelskind“ erzählt zwar die Geschichte einer durchgeknallten Serienmörderin. Die hasserfüllten und weitgehend willkürlichen Morde bilden jedoch nur den Rahmen für eine Reihe eindrücklicher Episoden, in denen Kirino ein desillusionierendes Bild ihres Heimatlandes entwirft: Dieses Japan ist die Hölle.

Am eindrücklichsten sind dabei die Frauenfiguren gezeichnet. Die prekäre Situation der Prostituierten aus dem Bordell in Yokosuka, die jahrelang ihren Körper verkauft haben, um am Ende ihrer beruflichen Laufbahn in Armut zu versinken, ist offensichtlich. Kirino erzählt darüber hinaus aber auch von ganz normalen japanischen Hausfrauen, die durch die finanzielle Abhängigkeit von ihren Ehemännern in die Rolle einer Dienstmagd und Küchensklavin gezwungen werden – und von alleinerziehenden Müttern, die ihre Kinder unter der Hand zur Adoption anbieten, um mit dem Geld ihre drückenden Schulden zu begleichen. So verbirgt sich unter der grausamen Oberfläche dieses vermeintlichen Psychothrillers ein düsterer Bericht aus der Mitte der japanischen Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

Im Grunde genommen ist es ein Wunder, dass Aiko die einzige Figur in diesem Roman ist, die sich in einen regelrechten Blutrausch stürzt. Tatsächlich soll es in den späten neunziger Jahren nach dem Ende des Booms in Japan einen Anstieg von Gewalttaten unter Frauen gegeben haben. Ganz so wörtlich darf man Kirino dann allerdings doch nicht nehmen. In ihrem jüngsten Roman ist das Verbrechen kein Vorbote des Geschlechterkriegs, sondern in erster Linie eine Metapher für die sozialen Auflösungstendenzen in der Post-Bubble-Ära. Und das ist kein Einzelfall. „Prekariatsliteratur“ und „yellow trash“ sind die Label, unter denen nicht nur „Teufelskind“, sondern auch eine ganze Reihe anderer Werke eingeordnet werden. Die japanische Gegenwartsliteratur widmet sich endlich auch den Modernisierungsverlierern, Sozialverweigerern und An-den-Rand-Gedrängten.

Das kommt gerade richtig. Denn auch wenn die Nachfrage nach Hondas, Mitsubishis und Toyotas im Ausland derzeit rapide abnimmt: Die gesellschaftlichen Worst-Case-Szenarien von Natsuo Kirino könnten angesichts der Weltwirtschaftskrise zum neuen Exportschlager werden.

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