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Erzählband: Boxkampf mit Engeln

Geisterbeschwörung: Christiane Neudeckers Erzählband „Unheimliche Geschichten“.

Wir leben in magischen Zeiten: Maschinen beantworten unsere Fragen angeblich klüger, als Menschen das könnten. Zahlenreihen simulieren unseren Alltag, und Informationsmassen, deren Herkunft und Konsistenz unklar ist, bestimmen unser Denken und unsere Träume. Gute Zeiten also für Geschichten, die vom Unheimlichen erzählen, von Menschen, die sich auf furchterregende Weise verwandeln, und von Geistern, die an sich selbst zweifeln.

Die sonderbaren Wesen, die Christiane Neudecker in ihrem Erzählungsband „Das siamesische Klavier“ auftreten lässt, stürzen den Leser in unlösbare Konflikte. Was ist von einer Erzählstimme zu halten, die behauptet, die entscheidende Rolle in einem Konzert zu spielen, zuletzt aber zugibt, gar nicht dort zu sein? Und sich lustig macht über die weltweite Aufregung, die das erwähnte Klavier hervorruft: „So grandios und umwerfend, wie man es Ihnen aus all den Reportagen und Filmbeiträgen und Zeitungsberichten und Radiofeatures entgegenplärrt, ist das Ding nun wirklich nicht. Es ist auch kein Sinnbild für irgendetwas. Es ist nicht auferstanden. Es ist nicht einmal einmalig. Und eine metaphysische Ebene besitzt es schon gar nicht. Glauben Sie mir.“ Das ist eine glatte Lüge, denn wie in einem Fantasy-Märchen wird das Klavier ein schreckliches Eigenleben entwickeln.

Mit Recht wurde Christiane Neudecker von der Literaturkritik als „Meisterin der Atmosphäre“ bezeichnet, und nicht nur ihr erster Roman „Nirgendwo sonst“ (2008), sondern auch ihre Geschichten leben vom sprachlichen und stilistischen Feingefühl, mit dem Affekte heraufbeschworen werden: Sechseinhalb Zeilen reichen, um eine leuchtende Gefühlswelt aufzubauen und sie dann, im letzten Satz, einstürzen zu lassen. So enthält schon der erste Absatz von „Dunkelkeime“ die ganze Not der Hauptfigur: ihre paradoxe Selbstwahrnehmung, ihre wütende Einsamkeit, ihren zerstörerischen Eigensinn. Es ist eine gelungene, fantastische Geschichte, die den Leser ratlos zurücklässt, keine Erklärung gibt und jeden Erwartungshorizont unterläuft.

Die Handlung wirkt äußerlich so einfach wie eine Geschichte von Jorge Luis Borges: Ein Mann, den seine Freundin verlassen hat, weil er in ihren Augen nichts mit seinem Leben anzufangen weiß, schlüpft in ihre Identität. Das vollzieht sich fast unmerklich, ganz langsam steigt er aus seinem Leben und Körper heraus, um ebenso langsam in den fremden Körper, seine Empfindungen und Gedanken hineinzusteigen. Was mit ihm geschieht, versteht er nicht, er leidet und zweifelt von Tag zu Tag mehr, hängt alle Spiegel ab und versucht sich zu verstecken. Nur die ständig wechselnden Reaktionen der Umwelt zeigen ihm den Grad seiner Verwandlung. Ganz realistisch wird diese Metamorphose erzählt, und als Leser empfindet man größtes Mitgefühl mit dieser verwirrten Kreatur. Das ist ja die einzige Hoffnung der fantastischen Literatur, dass in der Brust der Ungeheuer ein melancholisches, schmerzerfülltes Herz schlägt.

Umso tragischer, wenn die Welt dieses Leid falsch versteht und einen Teufel auszutreiben versucht, der weder existiert noch gemeint ist. „Gerufene Geister oder: der Carpenter-Effekt“ spielt in einem Kinderkurheim der Krankenkasse, und die spielerische Geisterbeschwörung während einer improvisierten Séance gelingt so gut, dass die Mädchen sich in ihr Spiel hineinsteigern und für nichts anderes mehr Interesse haben. Wer die selbst ernannten Exorzisten sind, die das tödliche Feuer legen, bleibt offen.

Weitere unheimliche und märchenhaftwunderbare Geschichten finden sich in diesem Band, sie handeln von einem tödlichen Boxkampf mit einem teuflischen Engel, dem virtuellen Schachspiel mit einem Toten und der Jagd auf moderne Erlkönige. Die großartige Geschichte „Wo viel Licht ist“ steht am Schluss: Während einer Theaterprobe beginnen die interaktiven, computergesteuerten Lichteffekte auf eigene Faust zu handeln. Der verzweifelte Regisseur hat das Gefühl, unwiderruflich einer Macht unterlegen zu sein, die mehr Energie, Leidenschaft und Aggression besitzt als jeder Mensch.

Vielleicht zeigt sich hier jene „unsichtbare Hand“, von der die moderne Medientheorie so schwärmt, und Christiane Neudecker, die selbst bei Licht- und Bewegungsinstallationen Regie führt, hat eine ganz realistische Geschichte erzählt?

Christiane Neudecker: Das siamesische Klavier. Unheimliche Geschichten. Luchterhand Literaturverlag, München 2010. 200 Seiten, 17,95 €.

Nicole Henneberg

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