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Goethe

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"Esra"-Urteil: Hätte Goethes "Werther" verboten werden müssen?

Nach dem Urteil des Verfassungsgerichts zum Verbot von Maxim Billers Roman müssen Werke mit aus der Realität abgebildeten Charakteren wohl neu bewertet werden. Verfassungsrichter meinen, dass auch Goethes "Die Leiden des jungen Werther" nicht hätte veröffentlicht werden dürfen.

Johann Christian Kestner war erkennbar verstimmt. Natürlich wusste er nicht, was aus dem Autor später werden sollte, doch was er in dessen Buch über Lotte, die weibliche Hauptfigur, gelesen hatte, "das haben wir ihm allerdings sehr übelgenommen". Denn er hatte keinen Zweifel: "Lottens Porträt ist im Ganzen das von meiner Frau." Dabei war Kestner sich sicher: Lotte hatte kein Verhältnis, weder zu Goethe noch zu einem anderen.

Es ist dieser Rückgriff in die Literaturgeschichte, mit dem Christine Hohmann-Dennhardt und Reinhard Gaier, zwei nicht nur in der Kategorie juristisches Fachbuch bewanderte Verfassungsrichter, ihrer Kritik am "Esra"-Urteil der Kollegen eine Pointe verleihen. Wenn die intimen Details über die Romanfigur "Esra", unschwer als Ex-Freundin des Autors Maxim Biller zu erkennen, ein Verbot rechtfertigten, dann hätte es wohl auch "Die Leiden des jungen Werther" getroffen, schreiben die Abweichler an die Adresse der Senatsmehrheit im Bundesverfassungsgericht. Denn in der Romanfigur Lotte - die "höchst intime Szenen" mit Werther durchlebt - sei unschwer Charlotte Buff zu erkennen, Kestners spätere Frau, in die sich Johann Wolfgang von Goethe während seiner Wetzlarer Referendarzeit verliebt habe.

Sexualität mit "richterlicher Lesebrille"

Letztlich bezweifeln die "Dissenten" die Logik der Grundsatzentscheidung. Danach ist ein Roman, der diese Bezeichnung verdient, zwar auch im Gerichtssaal als Erfindung des Künstlers anzusehen, als Fiktion, nicht als Schilderung realer Begebenheiten; der Erste Senat fordert ausdrücklich eine "kunstspezifische Betrachtung". Einerseits. Andererseits kommt die Literatur der Realität manchmal zu nahe, meint das Gericht. Vorbilder aus der Wirklichkeit zu entlehnen, sei zwar ihr gutes Recht. Doch wenn am Ende nicht nur die Romanfigur, sondern auch deren reales Alter Ego nackt dasteht, geht das dem Gericht zu weit.

Der kunstsinnige Richter Wolfgang Hoffmann-Riem, der ebenfalls gegen den Beschluss gestimmt hat, bringt die Konsequenzen auf den Punkt. Zwar darf ein Autor eine erkennbare Partnerin als Vorbild für eine Romanfigur nutzen - Sexualität, ob wahr oder erfunden, darf dabei aber nicht ins Spiel kommen. Womit einer der Ewigkeitsstoffe der Literatur auch künftig mit der, wie Hohmann-Dennhardt und Gaier sarkastisch formulierten, "richterlichen Leserbrille" rechnen muss. 2003 schritten Richter gegen Alban Nikolai Herbsts Roman "Meere" ein, drei Jahre davor gegen Birgit Kempkers "Als ich zum ersten Mal mit einem Jungen im Bett lag" - jeweils wegen intimer Details aus dem Leben erkennbarer Personen.

"Mephisto" wäre nicht verboten worden

Allerdings hätte ein anderes Werk der Literaturgeschichte, mit dem "Esra"-Urteil im Rücken, heute günstigere Aussichten vor dem höchsten deutschen Gericht. 1971 sahen die Verfassungsrichter durch Klaus Manns "Mephisto" das Persönlichkeitsrecht von Gustaf Gründgens verletzt; die Erben des Schauspielers und Intendanten, bei Mann im Nazi-Karrieristen Hendrik Höfgen erkennbar, erstritten posthum das berühmte "Mephisto"-Urteil, das die "Esra"-Entscheidung nun fortentwickeln will.

Denn im zweiten Teil der Entscheidung, in dem sich Billers Verlag Kiepenheuer & Witsch zumindest theoretisch durchgesetzt hat, darf der Autor mit höchstrichterlicher Billigung kräftig austeilen - Erkennbarkeit hin oder her. Was die Mutter von Billers Ex-Freundin, in "Esra" als Lale zu identifizieren, einstecken muss, dürfte ihr kaum weniger Schmerzen bereiten als den Gründgens-Erben die Höfgen-Schilderung.

Die engagierte Umweltaktivistin, für ihr Engagement gegen den Goldabbau mittels Zyanid in der Türkei mit dem alternativen Nobelpreis geehrt, wird im Buch zur depressiven, psychisch kranken Alkoholikerin, die ihre Tochter tyrannisiert und ihren Eltern Land gestohlen hat. Das hätte Biller schreiben dürfen, sagen die Karlsruher Richter: "Für ein literarisches Werk, das an die Wirklichkeit anknüpft, ist es gerade kennzeichnend, dass es tatsächliche und fiktive Schilderungen vermengt."

Wolfgang Janisch[dpa]

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