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Ethnologie: Bilder aus der Fremde

Mit der Photographie als einem historischen Verfahren der Ethnologie beschäftigt sich Thomas Theye bereits seit fast 20 Jahren. Nun hat er in einem schmalen Band seine Dissertation vorgelegt, die die zentralen Ergebnisse dieser Arbeit zusammenfasst.

Mit der Photographie als einem historischen Verfahren der Ethnologie beschäftigt sich Thomas Theye bereits seit fast 20 Jahren. Nun hat er in einem schmalen Band seine Dissertation vorgelegt, die die zentralen Ergebnisse dieser Arbeit zusammenfasst.

Im Jahr 1839 berichtet Alexander von Humboldt in einem Brief an Herzogin Friederike von Anhalt-Dessau fasziniert von der "geheimnisvollen Daguerrischen Entdeckung", die er in Paris kennengelernt hat. Es handelt sich um ein neues Abbildungsverfahren, die ersten photographischen Lichtbilder des französischen Malers Daguerre. Humboldt, der als Wissenschaftler mit der Begutachtung der neuen Technik betraut war, zeigte sich begeistert von der "unnachahmlichen Treue" der neuartigen Bilder. Der Naturforscher erkannte auch den Wert der Entdeckung für die wissenschaftliche Arbeit. Insbesondere für den reisenden Forscher bot sich nun eine Möglichkeit, das in der Fremde Gesehene als "authentisches" Bild nach Hause zu bringen und Vergleiche räumlich weit entfernter Phänomene anstellen zu können. Bereits im Sommer 1844 fertigte der Pariser Photograph E. Thiésson die ersten anthropologischen Photographien zweier brasilianischer Indianer in der französischen Hauptstadt an. Die neue Aufzeichnungstechnik wurde denn auch für die Völkerkunde bald zum wichtigen Forschungsinstrument.

Die wissenschaftliche Würdigung der vielen in diesem Kontext entstandenen ethnographischen Aufnahmen aus dem 19. Jahrhundert, hat erst in den letzten Jahren eingesetzt. Lange Zeit lagerten die historischen Photographien kaum beachtet in staubigen Archiven. Um die Aufarbeitung dieser Archivbestände hat sich im deutschsprachigen Raum vor allem Thomas Theye bemüht. Als Kurator der Ausstellung "Der geraubte Schatten. Photographie als ethnographisches Dokument" und Herausgeber des gleichnamigen Sammelbandes präsentierte Theye 1989 erstmals einen umfangreichen Überblick zu Verwendungsweisen und Implikationen des Mediums Photographie für die deutschsprachige Ethnologie im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In den 1990er Jahren erschloß Theye das Feld durch weitere Aufsätze zur "Geschichte der ethnographischen Photographie", zur "Aneignung des Fremden im Bild" sowie insbesondere zu den ethnologischen Photopionieren Franz Wilhelm Junghuhn, Amalie Dietrichs und den Brüdern Carl Victor und Friedrich Wilhelm Damann. Nun ist seine 2002 an der Universität Bremen vorgelegte kumulative Dissertation erschienen, die die zentralen Ergebnisse der Aufsätze zusammenstellt und resümiert. Leider umfaßt das Resümee des vorliegenden Bandes nicht die dazugehörigen Einzelstudien, sondern erläutert lediglich Forschungsstand und methodischen Ansatz der Arbeiten. Der Gang in die Bibliothek bleibt dem an den sechs zugehörigen Einzelpublikationen interessierten Leser also nicht erspart.

Anthropologie und Ethnographie

Die Photogeschichte der deutschsprachigen Ethnologie erscheint heute aus zwei Perspektiven interessant. Zum einen stellt sich die Frage nach dem dokumentarischen Wert von Bildern aus dem 19. Jahrhundert: Was können uns diese Bilder heute über das Leben von Menschen außereuropäischer Kulturen vergangener Zeiten mitteilen? Historische Photographien sind dabei in ihrer Motivwahl, ihrer Darstellungsweise und ihrem spezifischen Entstehungs- und Verwendungskontext immer auch ein historisches Zeugnis des europäischen Blicks auf die fremden Ethnien. Die Photos sind also zum anderen auch als Teil einer wissenschaftlichen Praxis zu befragen, die in der Produktion und Verbreitung von reproduzierbaren Bildern nicht nur das europäische Bild des Fremden entscheidend mitgeprägt hat, sondern die auch konkreten Anteil an der Ausbildung und Entwicklung der Disziplin der Ethnologie selbst gehabt hat. Im Mittelpunkt der Untersuchungen Theyes steht denn auch die Frage, "in welchem Maße und unter welchen Zielvorstellungen die deutschsprachige physische Anthropologie und Ethnologie des 19. Jahrhunderts Gebrauch von der Photographie machte".

Theye unterscheidet grundsätzlich zwischen anthropologischen und ethnographischen Photographien. Er folgt darin dem Berliner Arzt und Anthropologen Gustav Fritsch, der bereits 1875 in einer auflagenstarken "Anleitung zu wissenschaftlichen Beobachtungen auf Reisen" zwischen physiognomischen Bildern, die die körperliche Gestalt des Menschen abbilden, und ethnographischen Bildern, die Lebensverhältnisse, Sitten und Bräuche zeigen, unterschied. Die unterschiedlichen Forschungsinteressen von physischer Anthropologie und Ethnographie als Teilgebieten ethnologischer Forschung im 19. Jahrhundert spiegelten sich auch in den verschiedenen Erwartungen an die wissenschaftliche Bildproduktion.

Ziel der Anthropologen war die Erstellung eines physiognomisch-biologischen Ordnungsschemas verschiedener "Menschenstämme". Sie nutzten die Photographie vor allem als praktische Ergänzung bei der Erhebung körperlicher Meßdaten am Menschen. Das "Objekt", der photographierte Mensch, sollte in gerader Haltung, vor neutralem Hintergrund möglichst entblößt und auf das physische Äußere beschränkt frontal und im Profil erfaßt werden. Die deutliche Parallele zu neuen Methoden der Kriminalistik in der Erfassung und Klassifizierung von Verbrechern wurde beispielsweise in der Zeitschrift für Ethnologie explizit reflektiert. Dagegen ging es den in erster Linie an kulturellen Aspekten fremder Ethnien interessierten Ethnologen vor allem um die photographische Dokumentation ethnographischer Details wie Schmuck, Kleidung oder Bewaffnung. Als Anschauungsmaterial nutzten sie dabei nicht nur Reise- und Expeditionsphotographien, auch zahlreiche in professionellen Photostudios angefertigte, pittoreske Genrebilder von Eingeborenen unter Palmen fanden sich in den ethnographischen Publikationen wieder. Stand also auf der einen Seite das Streben nach einer möglichst vollständigen "Verdatung" des Fremden, so vermischten sich auf der anderen Seite wissenschaftliche Repräsentationen und populärkulturelle Stereotype.

Photographie als Dokument

Kaum hinterfragte Auszeichnung der Photographie war für Anthropologie wie Ethnographie die immer wieder beschworene "Objektivität" der Aufnahmen. Ihre "unnachahmliche Treue", die schon Humboldt betont hatte, machte die Photographie zum bewunderten Medium positivistischer Wissenschaftspraxis. Die unpersönliche Aufzeichnung des technischen Apparats hält auf dem Bild Gegenstände und Details fest, die sogar dem Photographen selbst im Moment der Aufnahme entgehen. Sie diene somit gleichsam als "Correctiv für die subjective Auffassung des Reisenden", pries der bereits erwähnte Gustav Fritsch die Leistung der neuen Technik. Als Medium der Spurensicherung sollten die photographischen Aufnahmen "authentische" Aufzeichnungen aus der Fremde liefern, die zu Hause interpretiert und ausgewertet werden konnten.

Die in der Phototheorie bis heute diskutierte besondere Beziehung der Photographie zu ihrem aufgezeichneten Referenten reflektiert auch die Studie Theyes. Er unterstreicht jedoch die "Ambivalenz zwischen der Dokumentation des Vorgefundenen und der Imagination des Photographen", die auch und gerade für die ethnographische Photographie des 19. Jahrhunderts charakteristisch ist. So wirkte die als neutral und objektiv geschätzte Abbildungstechnik der Photographie immer auch zurück auf die Konstitution der europäischen Bilder vom Fremden. Es liegt nahe, die Ausbildung des neuen Wahrnehmungsdispositivs Photographie, das zugleich neue Formen der Reproduktion und Verfügbarkeit des Fremden brachte, auch im Kontext kolonialer Phantasien und Interessen zu beleuchten. Als "Bestandteil des kolonialistischen Diskurses" konnte die Photographie gerade in ihrer vermeintlich authentischen Darstellung "bild- und beweiskräftige Argumente für die westliche Vorherrschaft" liefern, faßt Theye die Ergebnisse seiner Studien zusammen.

Völker ohne Schrift

Jedoch lassen sich an den beschriebenen Verfahren durchaus auch komplexe Interferenzen zwischen Eigenem und Fremden ablesen. So verlangte das ethnologische Studium der Kultur schriftloser Völker auch neue Formen der Wahrnehmung und Aufzeichnung jenseits der Schrift. Sie waren geradezu Bedingung der Möglichkeit eines vergleichenden Studiums fremder Kulturen. Dazu gehörte das Anlegen umfangreicher Sammlungen "materieller Kultur" in Form von Ethnographica für die Völkerkundemuseen ebenso wie neue technische Aufzeichnungsmedien, unter denen die Photographie im 19. Jahrhundert wohl das prominenteste blieb. Die Wahrnehmung der Schrift als wichtigstes Medium von Wissen und Träger der Kultur wurde somit gleich zweifach gebrochen: Das wissenschaftliche Interesse an außereuropäischen schriftlosen Kulturen ging einher mit einer Aufwertung technischer Wahrnehmungs- und Aufzeichnungsmedien in der eigenen wissenschaftlich-ethnographischen Praxis. Obwohl Theye durchaus auch an der Wissenschaftsgeschichte der Ethnologie interessiert ist, kommt gerade die Rückwirkung der neuen technischen Möglichkeiten auf die Konstitution der Gegenstände, Verfahren und Interessen der Ethnologie im 19. Jahrhundert bei ihm nur in Ansätzen in den Blick. Hierzu wäre ein weiterer Blick, der Medien- und Diskursgeschichte als ineinander greifende Verfahren begreift, nötig und wünschenswert.

Thomas Theye: Ethnologie und Photographie im deutschsprachigen Raum (1839-1884). Frankfurt a.M.: Peter Lang 2004. 204 Seiten, broschiert, 35,30 Euro.

Sven Werkmeister

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