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Frankfurter Buchmesse: Berlin unter der Gürtellinie

Als hätte ihn Thilo Sarrazin inspiriert - Helmut Kraussers „Einsamkeit und Sex und Mitleid“ ist ein Sittengemälde unserer Gegenwart und Berlins.

Als hätte ihn der umstrittene Ex-Finanzsenator inspiriert: Stellenweise liest sich Helmut Kraussers Hauptstadt-Panoptikum wie die Illustration zu den provokanten Thesen Thilo Sarrazins. Berlin wird dem einstigen Münchner Autor und erklärten Preußen-Skeptiker Krausser zu einem Biotop für vom Daseinskampf angeschwemmte Randexistenzen. Punks mit löchrigen Strumpfhosen und zahmen Ratten, wie sie im Westen der Republik seit Jahrzehnten kaum mehr gesehen wurden; renitente Frühpensionäre, die bei Karstadt lauthals verbilligte Wurstzipfel reklamieren; ein etwas einfältiger halbwüchsiger Araber namens Mahmud, der sich gegen seinen Willen in eine angebliche „Schweinefresserhure“ verliebt und dadurch Kontur gewinnt.

Helmut Krausser, der unter anderem Provinzialrömische Archäologie studierte, hat auch die diversen provinziellen Schichten der unter ihrem kosmopolitischen Anspruch zuweilen ächzenden Hauptstadt genauestens unter die Lupe genommen, die Berlinische Neigung zu Larmoyanz und Outriertheit eingeschlossen. Ein wirres, wundes, unsicheres Deutschland anno 2009 zeichnet dieser Roman, dessen Titel sich raffiniert als Refrain der Nationalhymnen-Zeile „Einigkeit und Recht und Freiheit“ ins Ohr festsetzt. In der Tat wagt der 1964 in Esslingen geborene, frühberufene Schriftsteller nichts Geringeres als ein Sitten- und Stimmungsbild unserer Gegenwart. Mit seinem Kameraauge begibt er sich ins soziotopische Getümmel der so unterschiedlichen Berliner Bezirke. Aber auch in Bielefeld können deutsch-türkische Aggressionen aufflammen, sobald ein Geschäftsmann urplötzlich aus der Rolle fällt, um seiner schönen und selbstbewussten Freundin zu imponieren. Allein, es hilft nichts – Carla wird Dr. Thomas Stern im munteren Fortgang der Handlung verlassen, während sich seine frustrierte Gattin Sarah im Grunewald von einem Callboy mit einem Paintball-Gewehr beschießen lässt: „Der Moment, wenn eine Farbkugel auf ihrem Trainingsanzug platzte und sie, getroffen, das Spielfeld verlassen musste, besaß etwas existenziell Erregendes. Sie lernte sich neu kennen und hegte bald den Verdacht, masochistischen Spielarten des Sex zugänglicher zu sein, als sie es je für möglich gehalten hätte.“

Menschen am Wendepunkt und Aufhebung von Grenzen

Jedem Tierchen sein Pläsierchen: Mimetisch und stets mit mildem Spott fühlt sich der allwissende Erzähler in die jeweiligen Milieus ein, wenn er pubertäre Protzereien via Handy wiedergibt oder gutbürgerliche Ehepaare beim Kochen zeigt, die sich in ihrer blitzblanken Edelküche längst nichts mehr zu sagen haben. Helmut Krausser zeigt Menschen am Wendepunkt und erweist sich erneut als mitreißender Realist, dem jedoch häufig die Formulierungen entgleiten. Helmut Kraussers beachtliches Werk interessiert grundsätzlich die Aufhebung von Grenzen, ob zwischen Wahn und angeblicher Normalität oder zwischen Erotik und Pornographie. Aus einem elitären Künstlerbewusstsein heraus geschrieben konfrontierte etwa die „Schmerznovelle“ unsere Therapiegesellschaft mit elementaren Mächten wie Eros und Tod. Dem artistisch verbrämten Todestrieb auf der Schwäbischen Alb widmete sich der Roman „Thanatos“.

Das neue Buch beschränkt sich auf die Schilderung einer Kindsentführung. Die dreijährige Sonja verschwindet aus einer Familie, deren Mitglieder nur um sich selbst kreisen. Überhaupt sind bis auf eine gutmütige afroamerikanische Kellnerin nur geld- oder sex-, seltener liebeshungrige Egoisten beiderlei Geschlechts unterwegs. Mittels einer kühnen Verbindung von Zufällen nach Art von Robert Altmans Raymond-Carver-Adaption „Short Cuts“ verwebt Helmut Krausser die Schicksale seiner zahlreichen Protagonisten miteinander.

Daily Soap mit einigen Schlampereien

So erfährt der Leser etwa von der pikanten Schießszene im Grunewald aus dem Mund des Callboys Vincent, der einer anderen solventen Kundin (die mit der Edelküche) davon erzählt. Ein frühpensionierter Lateinlehrer oder eine ehemalige Primaballerina aus Darmstadt mit einer neurologischen Ausfallssymptomatik mischen sich ebenso in das Heer der versehrten Suchenden. Rabauken, Punks und junge Türken, alle mit genitalen Nöten und dem obligatorischen „Okay“ oder „Scheiße“ auf den Lippen: Sie erweisen sich ungeahnt als Romantiker und Beschützer.

Sie alle wollen ihr Glück in Berlin erproben: eine Stadt für Spielernaturen, wie auch der Schriftsteller Helmut Krausser eine ist. „Liebe, Mythos, Tod – ich liebe es, das Große in unsere Zeit hineinzutragen“, lautet eines seiner typischen Statements. Diesen Anspruch hat er diesmal auf das Format einer Daily Soap heruntergedimmt, mit durchaus spannenden Cliffhangern, aber auch einigen Schlampereien wie zum Beispiel Akteuren, die sich fallengelassen fühlen wie eine „kalte Kartoffel“. War dieses Schicksal bislang nicht heißen Erdäpfeln vorbehalten? Egal, es passt ins wirre neue Deutschland.

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