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Frankfurter Buchmesse: Das Buch der Natur wird umgeschrieben

Der Amerikaner Richard Powers fragt in seinem Roman „Das größere Glück“: Was wäre, wenn es ein Glücksgen gäbe? Es bereitet vor auf das, was uns bevorsteht und hinter unserem Rücken längst geschieht.

Von Gregor Dotzauer

Seit unvordenklichen Zeiten herrscht zwischen den Geschlechtern Laxheit in Sachen genetischen Eigentums. Die 23 Chromosomenpaare der menschlichen Spezies werden getauscht wie auf Pirate Bay, ohne dass jemand an Diebstahl denkt. Von einem wachen Verstand bis zu Sommersprossen ist alles Mögliche begehrt, wobei das Erstrebenswerte kulturell so flexibel definiert ist wie das Feld der Verrechnungsmodalitäten. Mit der subjektiven Arglosigkeit mag es dabei schon immer so eine Sache gewesen, mit der juristischen Unschuld aber ist es nun ein für allemal vorbei.

Boris Beckers Klage, er sei bei seiner Affäre mit Angela Ermakowa Opfer eines Samenraubs geworden, gehört noch zu den zeitlosen Anekdoten über ungewollte Vaterschaften. Die Nachrichten über gestohlene Eizellen sind schon ein Stoff des späten 20. Jahrhunderts. Die massenhaft patentierten DNA-Signaturen der letzten Jahre aber, bei Pflanzen und Tieren längst Gegenstand praktischer Eingriffe, geben einen Vorgeschmack darauf, dass sich bald kein Mensch mehr auf die Unverfügbarkeit seines Schicksals berufen kann. Leben beginnt dann vielleicht mit dem Appell: Wählt eurem Ungeborenem das Wunschdesign aus dem Katalog der Gen-Sequenzen! Und der Erwachsene muss sich womöglich dafür verantworten, der bleiben zu wollen, der er genetisch ist.

Unglück als Makel, auf den niemand mehr ein Recht hat?

Was wäre, fragt der amerikanische Erzähler Richard Powers in seinem zehnten Roman „Das größere Glück“, wenn es so etwas wie ein Glücksgen gäbe? Wäre Unglück dann ein Makel, auf den niemand mehr ein Recht hat? Bliebe es das Stigma der Armen, sich genetische Renovierungsarbeiten nicht leisten zu können? Und weil er weiß, dass die Wissenschaft schon glaubte, viel spezifischere Gene entdeckt zu haben, dämpft er erst einmal die Erwartungen: „Alzheimergen, Alkoholismusgen, Homosexualitätsgen, Aggressionsgen, Neugiergen, Angstgen, Stressgen, Xenophobiegen, Kriminalitätsgen und Treuegen sind gekommen und gegangen. Doch der Mensch kann nicht aus seiner Haut, und seit den Tagen der Sumerer haben Autoren darauf gewartet, dass dieses bestimmte Geheimnis auf den Markt kommt.“

Was wäre, fragt Powers weiter, und darin liegt die ingeniöse Wendung seines Buchs, wenn die Entdeckung eines solchen Gens die Erzählbarkeit von Menschenleben verändert? Würde das Übermaß des im genetischen Programm faktisch Festgelegten nicht den Sinn fiktionaler Gegenentwürfe beschädigen? Wenn im Buch der Natur immer schon alles geschrieben steht, was Menschen an charakterlichen Wandlungen offen steht, kann eine Kunst, die ebendiese simuliert, noch ins wirkliche Leben hinüberwirken? Aber auch die Gegenfrage ist erlaubt: Wenn sich dieses Buch der Natur nach Belieben manipulieren lässt, explodiert die Zahl der möglichen Geschichten dann nicht ins Unendliche?

Powers, 1957 in Illinois geboren, wo er heute an der Universität von Urbana-Champaign lehrt, ist als Literaturwissenschaftler zu gewieft, um Metaphern wie das Buch der Natur wörtlich zu nehmen oder das Wort Glück nicht skeptisch zu betrachten. Er ist überdies mit allen dialektischen Wassern neuroethischer Argumentationskunst gewaschen, um sich nicht vorschnell festlegen zu lassen. Dass er sein Thema aber nicht als Philosoph erkundet, sondern als Romancier, ist weniger seiner Profession geschuldet, als der Überzeugung, dass es keinen archimedischen Punkt gibt, von dem aus sich theoretische Antworten finden lassen. Man muss sich vielmehr mitten ins Gewirr der Narrative hineinbegeben, in denen sich jeder seine Geschichte zurechtlegt. Man muss Schneisen schlagen durch den Wald der Metaphern, im Bewusstsein, dass da, wo man eine erfolgreich niedergerungen zu haben glaubt, sofort die nächste ihren Kopf erhebt.

Optimierung des Menschen: vom Schlafmittel bis zum Stuimmungsaufheller

„Das größere Glück“ heißt im Original „Generosity – An Enhancement“. Damit ist ein zentraler Begriff der Neuroethik benannt: die medikamentöse oder genetische Optimierung des Menschen. Powers spielt mit ihr, vom Schlafmittel bis zum Stimmungsaufheller, in allen Varianten: am ausführlichsten in der Gestalt von Thassadit Amzwar, der jungen Berberin, die aus einem vom Krieg zerrissenen Algerien nach Chicago geflohen ist – der Vater von Islamisten ermordet, die Mutter an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben. Thassa aber, ein psychisches Wunder, verstrahlt im Creative Nonfiction-Seminar unter der Leitung des deutlich melancholischeren Russell Stone eine mitreißende Fröhlichkeit, als hätte sich nicht der geringste Schatten auf ihre Seele legen können.

Miss Generosity, wie sie von einem Kommilitonen getauft wird, entpuppt sich tatsächlich als genetischer Sonderfall, der als Modell für widerstandsfähige Gemüter dienen könnte. Thomas Kurton, ein fiktives Double des Genomkönigs Craig Venter, ist ganz begeistert von seinem lizenzfähigen Fund, und die Medien, verkörpert durch die Wissenschaftstalkerin Tonia Schiff und die irische Showqueen Oona, in der Oprah Winfrey parodiert wird, sind so gierig auf die Sensation, dass Thassa mit Hilfe von Stone eine zweite Flucht antreten muss.

Die Liebesgeschichte ist in ihrer Konventionalität trügerisch

Das ist der Spannungsplot, der alle Züge einer realistisch anmutenden Illusion entwickelt, wenn er nicht so erkennbar metafiktional gebrochen wäre, dass man immer wieder auf die Künstlichkeit der Figuren gestoßen wird. Auch die aufkeimende Liebesgeschichte zwischen Stone, dem gescheiterten Schriftsteller, und der Universitätspsychologin Candace Weld, die sich gemeinsam Thassas annehmen, ist in ihrer Konventionalität trügerisch. Zum einen wacht über allem ein namenlos demiurgischer Ich-Erzähler, der die Geschehnisse, wie sie im Dunkel seiner Imagination aufflackern, erst mühsam entziffern und zusammenfügen muss. Das Schreiben ist für ihn auch ein Lesen. Zum anderen spiegeln sich in der Versuchsanordnung, die er entwirft, die Themen des Romans auf vielen Ebenen.

Handelt es sich schon um einen Klon, wenn man sich wie Stone mit Candace in eine Frau verliebt, die ihm zunächst als Wiedergängerin einer früheren Liebe erscheint? Welchen Status hat eine Stadt, die erklärtermaßen Chicago gleicht, aber sogar in der Fiktion nur wie eine schlechte Kopie funktioniert? Was sind Romanfiguren anderes als künstliche Menschen, die von ihren Schöpfern mit bestimmten Wesenszügen ausgestattet und in ihr Leben entlassen werden? Von erzähltheoretischen Fragen, wie sie Frederick P. Harmons fiktiver Ratgeber „Wie Ihr Schreiben zum Leben erwacht“ aufwirft, zu anthropologischen ist es nur ein Schritt. War der Mensch nicht schon vom Moment seines Erscheinens an ein Zitat seiner Verwandten? Die condition humaine trug zumindest in dieser Hinsicht bereits im Neolithikum Züge der condition postmoderne.

Schneller, greller und komischer als frühere Bücher

Richard Powers bringt in seinen Büchern seit jeher Ideenroman und Figurenroman zusammen. Die Dynamik gedanklicher Konstellationen und die Dynamik von Charakteren durchdringen einander. „Galatea 2.2“, ein Höhepunkt seines bisherigen Werks, war eine Pygmalion-Variante im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz. „Schattenflucht“ unternahm eine Reise in die Frühzeit der virtuellen Realitätsforschung, die er mit der Geiselnahme eines Amerikaners in einer Beiruter Höhle verknüpfte. „Der Klang der Zeit“ entfaltete eine Familiengeschichte, die vor dem Hintergrund der amerikanischen Rassenunruhen von der Ehe zwischen einem Juden und einer Afroamerikanerin erzählt und der versöhnenden Kraft der Musik. Zuletzt untersuchte „Das Echo der Erinnerung“ die Entstehung mentaler Räume auf der Grundlage der zeitgenössischen Hirnforschung.

„Das größere Glück“ nun, schneller, greller und komischer als frühere Bücher, zeigt, wie die vermeintliche Genauigkeit der Wissenschaft und die vermeintliche Ungenauigkeit der Literatur einander brauchen: Die Interpretation von Daten hat stets auch etwas Erzählendes. Dazu kommt ein autobiografischer Anlass: Powers ist einer von neun Menschen dieser Erde, die ihr Genom vollständig haben entschlüsseln lassen und die Ergebnisse der Forschung zur Verfügung stellen. Davon erzählt „The Book of Me“ (http://men.style.com/gq), seine ebenso tiefsinnige wie witzige Reportage, die er im November 2008 in der Zeitschrift „GQ“ veröffentlichte.

Das Thema beschäftigt Powers seit bald zwei Jahrzehnten. Sein 1991 erschienener Roman „The Gold Bug Variations“, der im Titel Johann Sebastian Bachs „Goldberg-Variationen“ und Edgar Allan Poes Shortstory „The Gold Bug“ (Der Goldkäfer) kreuzt, ist ein früher Ausflug in die Molekularbiologie und die mathematischen Strukturen der Musik. „Das größere Glück“ erweitert die Sphären, die dabei aufeinander treffen, indem das, was hier als wissenschaftliche Erkenntnis verhandelt wird, erst durch die Medien in die Welt gelangt. Ein verqueres Ineinander von so genannter Wirklichkeit und medial inszenierter Wirklichkeit, Realitätshunger und Eskapismus, hat sich breitgemacht, die alles Faktische der gleichen Fiktionalisierung unterwirft – und es mit dem unmaßgeblichsten privaten Bekenntnis auf eine Stufe stellt: „Blogs, Mashups, Reality-Fernsehen, Gerichts-Fernsehen, Chatshows, Chatrooms, Chatcafés, Spendenkampagnen, Werbetexte, ja sogar Kriegsberichterstattung – alles wird zur egomanischen Beichte. Gefühle sind die neuen Tatsachen. Memoiren sind die neue Geschichtsschreibung. Selbstentblößung sind die neuen Nachrichten.“

Als Schriftsteller ist Powers seinem visionären Intellekt nicht immer gewachsen

Als Denker und Konstrukteur ist Richard Powers ein Titan. Kein theoretischer Aspekt, den er nicht berücksichtigen würde, keine Debatte, die ihm kein Stichwort liefern würde. Freiheit oder genetischer Determinismus: eine Scheinalternative wie die Konfrontation von nature und nurture, dem Angeborenen und dem Milieubedingten. Der Transhumanismus, eine Denkschule, die sich für die technologische Überschreitung der Spezies begeistert, kommt mit Thomas Kurton zu Wort: „Wir sitzen in der Falle eines fehlerhaften Designs, wir stecken in einem schlechten Plot fest. Wir möchten jemand anderer werden. Genau das haben wir seit Beginn dieser Story gewollt.“ Powers holt solche Ideen aus dem Reich der genrehaften Science-Fiction, wo sie die Romane von William Gibson („Neuromancer“) und Iain Banks prägen, zurück in die Literatur.

Als Schriftsteller ist er seinem visionären Intellekt nicht immer ganz gewachsen. Da klappern zwischendurch die Häkelnadeln braver Dialoge gewaltig, und auch manches fragwürdige Bild schleicht sich ein. Doch was daran altmodisch erscheinen mag, ist auch von der Überzeugung getragen, dass die Fragen, vor denen die Menschheit steht, beständiger sind, als ihre angekündigte Überwindung es uns weismachen möchte.

„Das größere Glück“ ist ein intellektuelles Vergnügen, das sich auch nach mehrfacher Lektüre kaum ausschöpfen lässt, ist nicht nur die bestmögliche Vorbereitung auf das, was uns bevorsteht. Es führt hinein in das, was hinter unserem Rücken längst geschieht.

- Richard Powers: Das größere Glück. Roman. Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2009. 415 Seiten, 22,95 €.

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